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ntv:
Still sein, das konnte Lenin nicht. Selbst im Schlaf fluchte er über seine politischen Gegner, drohte ihnen, agitierte. Eine unangenehme Gewohnheit, machte sie doch seinen nächsten Plan zunichte, wie er endlich nach Russland gelangen könnte, in seine Heimat, wo Anfang dieses Jahres 1917 der Zar gestürzt worden war. Wladimir Iljitsch Uljanow, 46 Jahre alt, Vorsitzender der russischen bolschewistischen Partei, saß 2000 Kilometer und eine Kriegsfront entfernt im Exil in Zürich. Ein Berufsrevolutionär am falschen Ort.
Ein Schweizer Dokument aus dem Jahr 1917.(Foto: AP)
In seiner Verzweiflung spielte er mit dem Gedanken, sich mit einem falschen Pass als taubstummer Schwede auszugeben. Seine Frau Nadeschda Krupskaja, wie immer umsichtig vorausdenkend, winkte ab. Er würde sich an seinen russischen Schimpftiraden im Schlaf verraten und Russland nie erreichen. Oder nur in Ketten. Selbst das schien ihrem Mann aber schon egal zu sein: "Wir müssen irgendwie aufbrechen, und wenn es durch die Hölle ist", schrieb er einem Genossen in Schweden. Und in so einer Situation bleibt nur eine Möglichkeit: Ein Pakt mit dem Teufel - dem deutschen Kaiser. Es sollte ein schicksalhaftes Bündnis werden, das den Lauf der Weltgeschichte entscheidend veränderte. Ohne diese Zugfahrt im April hätte es wohl keine Oktoberrevolution gegeben, und die Geschichte des 20. Jahrhunderts wäre ganz anders verlaufen.
Ein windiger Mann mit einem Plan
Die deutsche Führung hatte schon seit Weihnachten 1914 immer wieder über Bande versucht, dem russischen Zaren Friedenssignale zu senden. Der Zweifrontenkrieg in Frankreich einerseits und Ostpreußen andererseits überforderten die Kräfte der Armee, der Stellungskrieg machte schnelle Erfolge unwahrscheinlich. Die Strategen der Obersten Heeresleitung liebäugelten mit einem Ende des Krieges gegen Russland, um die freigewordenen Kräfte an die Westfront zu schicken. Weil alle Avancen an den Zarenhof versandeten, unterstützte das Auswärtige Amt Separatistengruppen, die das riesige russische Reich zersetzen sollten – finnische Freischärler, estnische Nationalisten, turkmenische Dschihadisten.
Im März 1915 stellte sich ein massiger Geschäftsmann namens Helphand vor, damals unter Sozialdemokraten besser bekannt als Alexander Parvus. Er unterbreitete den Beamten einen Plan für einen Massenaufstand in Russland. In der Wilhelmstraße erregten seine Verbindungen in die Sozialdemokratie größten Argwohn, aber seine Idee überzeugte sie. Das Reichsschatzamt stellte dem windigen Anzug-Revoluzzer zwei Millionen Reichsmark zur Verfügung, zur "Unterstützung der russischen revolutionären Propaganda". Parvus mietete sich kurz darauf im noblen Züricher Hotel Baur au Lac ein, um Lenin zu treffen, der wie tausende Russen in dieser Zeit im Schweizer Exil lebte - unter armseligen Bedingungen, als Untermieter bei einem Schuhmacher. Krupskaja erinnerte sich, dass sie nur nachts das Zimmer lüften konnte, weil der Gestank einer nahen Wurstfabrik tagsüber Kopfschmerzen verursachte.
Ein gefährlicher Pakt
Der Plan des deutschen Kaisers geht nicht auf.(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Lenin hasste Parvus, wie er so viele Linke hasste, die er für Abweichler von der richtigen Linie hielt. Und Lenins richtige Linie war außerordentlich schmal. Er war ein Radikaler unter Radikalen. Während in St. Petersburg die Februarrevolution die alte Welt des Zaren hinweggefegt hatte, verlangte er nicht etwa eine Konsolidierung auf einen demokratischen Kurs, sondern die Umwandlung des Krieges in einen revolutionären Bürgerkrieg. Eine Idee, die seine eigene Frau zu der Bemerkung veranlasste, Lenin sei wohl "leider verrückt geworden". Doch sie und der getreue Haufen der Bolschewiki wollten nach Russland zurück. Und Parvus war der Mann, der die Reise durch Deutschland einfädelte und sich gleichzeitig wieder fünf Millionen Reichsmark zusätzlich sicherte. Ob und wie genau das Geld tatsächlich in die Kassen der Bolschewiki floss, wurde nie zweifelsfrei bewiesen. Die Indizien lassen aber den Schluss zu: Die gute Qualität der legendären Parteizeitung "Prawda" verdankt sich deutschem Gold.
Jedenfalls willigten die Beamten des Kaisers trotz ihrer Abscheu vor Revolutionären wie Lenin in den Deal ein, "da wir Interesse daran haben, daß Einfluss des radikalen Flügel der Revolutionäre in Rußland Oberhand gewinnt", wie ein Staatssekretär vermerkte. Nur Lenin zögerte. Die ersten Annäherungsversuche deutscher Mittelsmänner wies er brüsk zurück. Zwar war der Zar gestürzt, doch die Provisorische Regierung führte den Krieg gegen das Deutsch Reich weiter. Nahm Lenin die Hilfe des Kaisers an, war er ein ausländischer Agent, ein Verräter. Letztlich folgte er aber doch einer Devise, die der junge Karl Marx einmal so beschrieben hatte: "In der Politik kann man mit dem Teufel paktieren. Aber man muss sich sicher sein, dass man selber den Teufel austrickst, und nicht andersherum." Der Bolschewistenführer stellte also Bedingungen, die wichtigste: Der Waggon gilt als exterritoriales Gebiet.
Revolutionäre Disziplin im Zug
Am Morgen des 9. April fand sich die Reisegesellschaft mit rund 30 Männern, Frauen und Kindern auf dem Züricher Bahnhof ein, unter wüsten Beschimpfungen von russischen Exilanten. Schweizer Sozialisten hatten Geld für die Tickets bis an die deutsche Grenze in Gottmadingen gesammelt, von dort sollte es über Stuttgart, Frankfurt und Berlin bis Sassnitz gehen. Der berühmte plombierte Waggon der Großherzoglich Badischen Staatseisenbahnen, in dem Lenin und seine Reisegefährten Richtung St. Petersburg zuckelten, war vieles: ungemütlich, muffig, laut. Eines war er nicht: plombiert. Tatsächlich wurden nur drei von vier Türen verschlossen, gelegentlich durften die Reisenden bei Stopps kleine Spaziergänge machen. Natürlich hatten die Deutschen zwei Begleiter abgestellt, doch eine Kreidelinie vor ihrem Abteil markierte das exterritoriale Gebiet.
Lenin hatte sich einen einfachen Holzwaggon ausbedungen, mit Holzbänken und nur drei Abteilen der Zweiten Klasse. Eines davon belegte Lenin mit seiner Frau, im Abteil dahinter reiste seine ehemalige Geliebte Inessa Armand, die von Lenin immer noch mit wichtigen Aufgaben betraut wurde. Den Russen stand nur eine Toilette zur Verfügung, die ständig von Rauchern blockiert wurde, da Lenin das Rauchen auf dem Flur verboten hatte. Der Parteiführer regelte das Problem höchstselbst: Er verteilte Wartescheine. Außerdem erklärte er die Einhaltung der Nachtruhe zur revolutionären Pflicht - es nervte ihn gewaltig, dass einige Genossen ständig die Marseillaise schmetterten, angeheitert durch das Bier, das die deutschen Begleiter in Singen verteilt hatten.
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