Das Meer schien zu rauchen, da der Dunst sich gleich einer Glocke vor die Sonne gestellt hatte. Es war, als ob ein Reaktor seine Strahlen über die Weite des Atlantiks ausgebreitet hätte. Die Sonne war als zarter Hauch durchzogen von diesigen Fäden am Himmel zu sehen. Die Füße trugen sie soweit, bis sie nur noch die schwarze Lavawand sah, auf welche die Urgewalt ihre weißen Brecher sandte. Dahinter kahle Baukräne, die ihre Rücken in den Himmel bohrten, umgeben von einem Panorama von ausgebeinten Betonpfeilern. Sie kehrte um. Ihre Füße krallten sich in den nassen von Fußspuren unberührten Sand. Mit jedem Schritt erhob sich ein Schmatzen, wenn sie den Fuß aus der soeben noch erkorenen Höhle hob. Dann stand sie vor dem Wrack. Die Planken wiesen von Moder durchzogen Löcher auf. Das Meeressalz zeigte seine Spuren. Es hatte sich direkt in die Substanz des alten ausgedienten Schiffs hineingefressen. Sogar an den querliegenden Eisenstäben machte das Meer nicht Halt. Die perforierte Maserung ließ das Metall nur mehr als verrosteten Werkstoff erscheinen. Er sprach die Worte laut gegen die einfallenden Wellen kämpfend: „In tausend Jahren werden sich Korallenriffs an dem Wrack angesammelt haben.“ Sie drehte sich um. Erstaunt nahm sie wahr, daß er noch da war. Eigentlich war er immer da, aber heute bei diesem Spaziergang hätte sie ihn fast vergessen können. Sie hatte sich sogar vorgestellt, wie sie alleine in der Abflughalle saß. Zwanzig Jahre später, wenn sie alleine, ohne ihn wäre, nurmehr ein alterndes Fräulein, das mit einer klammernden Bewegung das Handgepäck an sich reißt. Sie hatte, als sie dem Wrack gegenüber stand, an ihre Mutter gedacht. Er war in ihre Gedankenwelt eingefallen. Sie murmelte gegen die Wellen: „Was sind tausend Jahre gegen den Tod einer Mutter?“ Er nahm sie in den Arm. Es war ihr egal, ob er ihre Erwiderung gehört hatte. Zumindest sah es so aus, als ob er sie vernommen hätte. Seine Mutter war schon lange tot. Was hätte er also entgegnen können? Außerdem geschah es oft, daß sie etwas sagte, ohne eine Antwort von ihm zu bekommen. Es war also kein Wunder, daß er sie sprachlos in die Arme genommen hatte. Seine Umarmung war fast väterlich. Ein Sog ergriff sie und sie sank in die rund zwanzig Jahre ältere Gestalt herab. Aber der Gedanke an die Mutter ließ sie nicht los. Was hätte ihre Mutter wohl dazu gesagt, wenn sie hier mit einem so viel älteren Mann stände? Ein Schiffswrack beobachtend, das die Erinnerungen an die Vergangenheit heraufbeschwor. Im Geiste hörte sie ihre Mutter sagen: „Was willst du mit ihm? Im Alter wirst du allein sein. Das ist keine Basis für eine reelle Beziehung.“ Sie schüttelte den Gedanken ab. Gleichzeitig machte sie sich los von seiner Umarmung. Er ließ sie leicht überrascht los. Was hatte sie? Aber dann dachte er, daß sie frei sei. Frei wie ein Vogel und sah, wie sich ihr Gesicht von den Wellen abgewandt in die kleine Schar Strandläufer grub, die versuchten hier und da einen Wurm oder Krebs zu erhaschen. Sie liefen weiter. Sie voraus, während er ihr mit zögernden Schritten folgte. Er betrachtete sie, wie sie in ihrer Jugend leicht über den Sand tänzelte. Er schaute ihren Fußspuren nach. Ihre ergaben nur sanfte Abdrücke in dem schwarz-weiß marmoriertem Sand, während in seinen schweren behäbigen Spuren sich das Meerwasser sammelte. Er begann schwer zu schnaufen. Er dachte, er würde sie ziehen lassen. Was für eine Zukunft würde er ihr in seinem Alter noch bieten können? Es müßte jetzt gleich sein, solange sie noch so voller Glück durch den Sand lief. Mit einer abrupten Bewegung drehte er sich um und lief zum Hotel zurück, ohne daß er nocheinmal einen Blick auf die Gestalt verloren hätte, die sich mit dem diesigen Himmel vermischte.
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