Nach einer schlaflosen Nacht zersprang die Saite. Befremdet bestaunte sie ihr Gesicht im Spiegel. Sie war noch schöner geworden. Sie wirkte so zerbrechlich wie ein kleiner Vogel. Die Ruhelosigkeit der letzten Wochen hatte dazu geführt, daß sie sechs Kilos weniger auf die Waage brachte. Mit einem seltenen Wohlgefühl kämmte sie ihr flachsblondes langes Haar, bis es in der morgendlichen Oktobersonne, die durch das Fenster im Badezimmer fiel, zu glänzen begann. Der lichtdurchflutete große Raum strahlte in seinem Weiß, ausgestattet mit dem neuesten Design, das sich von der Kloschüssel bis zum Wasserhahn durchzog, einen Umstand, den sie ihrem Ehemann, einem gefeierten Stararchitekten zu verdanken hatte.
Die Ruhe in der Wohnung war fast trügerisch. Er war schon aus dem Haus zur Arbeit und das dreijährige Kind befand sich für eine Woche bei den Großeltern. Nachdem sie ausgiebig ihre Morgentoilette vollzogen hatte, nahm sie Kurs auf die Metalltreppe, die überirdisch leuchtete in dem Licht, das die Dachfenster malten. Ein vollkommener Tag, dachte sie. Sie würde frei sein. Oben angelangt bereitete sie sich in der Bulthaup-Küche ein fürstliches Frühstück zu, von dem sie aber nur drei Happen zu sich nahm, um den Rest stehen zu lassen. Es widerte sie an, noch mehr davon zu essen. Sie dachte mit einer gewissen Abscheu an ihre Mutter. Wie fett sie doch war. Ein Kriegskind, das alles, was ihm aufgetischt wurde, fraß wie ein ekliger Straßenkötter. Das hatte sie nicht nötig. Hatte Papa nicht immer ihr zugeraunt, sie sei sein kleines Prinzesschen? Ihr gutaussehender Papa mit dem silbrigen Haar. Ja, Papa hätte auch als Schauspieler mit seinem markanten Gesicht durchgehen können. Aber leider war Papa fast nie zu Hause. Weg. Geschäftlich unterwegs. Und Mama, ja Mama liebte nur ihren Zwillingsbruder. Sie wußte, daß sie jetzt im Moment ihren kleinen Sohn knuddeln würde, wie damals ihren Bruder. Aber nun war Papa als Rentner zu Hause und ihr kleiner Sohn liebte nur seinen Opa. Heiß und innig. „Oma böse“ hatte er immer wieder wiederholt, nach einem Telefongespräch, obwohl Oma immer im Wohnzimmer mit ihrem kleinen Sohn auf dem alten abgerubbelten Perserteppich rumrobbte und „Teppich flieg weg“ spielte, um seine Zuneigung zu erobern.
Diese Gedanken brachten ihr Gebäude ins Wanken. Vielleicht war dies doch nicht der perfekte Tag, in dem sie die „First Lady“ spielen konnte. Sollte sie sich nach diesen Gedanken nun doch in die Menge wagen, um Shopping zu gehen? All die Leute, die sie anstarren würden, wenn sie sich im Spiegel drehte, während sie einen neuen Wintermantel anprobierte? Aber schließlich, ja schließlich war heute ein besonderer Tag. Sie befand sie trotz aller böser Gedanken in Hochstimmung. Zuallerst hatte sie ein Friseurtermin im „Beauty Salon“ in der Tübinger Straße. Die erste Etappe. Danach plante sie, einen neuen Wintermantel zu kaufen. Ob sie noch Zeit fände, um den Autohändler aufzusuchen, war fraglich.
Das Telefon klingelte. Komisch, warum klingelte um diese Zeit das Telefon? Trotzdem nahm sie ab. „Hallo - Hier die Aachener Versicherung. Ihr Mann ist versichert bei uns.“ „Ach ja, das wußte ich nicht.“ „Eine Versicherungssumme von 10.000 DM ist zahlbar.“ „Ach ja, gut, ich werde es ihm ausrichten.“ „Ja, danke.“ Sie legte auf und starrte den Hörer an. Das waren sie, die Scientologen. Ihr Mann hatte sich in der letzten Zeit immer öfter zu sehr fragwürdigen religösen Sitzungen verzogen. Die 10 Tibeter, hatte er immer wieder beschwichtigend wiederholt. Fleisch wollte er auch nicht mehr essen. In ihrer Phantasie hatte sie ein Gespinst entwickelt, daß - angespornt durch Literatur, die von der Scientology handelte - ihr Mann mit seinem vielen Geld ein Mitglied der Sekte geworden war. Horrorphantasien hatten sich in ihr breitgemacht. Beispiele von Leuten, die austreten wollten und dann aber ständig überwacht wurden von zweifelshaften Mittelsmännern bis es dahin kam, daß sie körperlich bedrängt wurden. Geld und Macht war ihr einziges Ziel. Und genau das hatte ihr Ehemann. Geld und Macht. Warum sollte sie also nicht die 10 Tibeter gegen die Scientologen austauschen? Die Versicherung war die Scientology und die wollten Geld.
Sie stand wieder vor dem Spiegel, machte sich dazu bereit, in die Stadt zu gehen. Das Gegenüber, das sich ihr zeigte, war noch immer schön, diesmal zu schön, daß sie es kaum anzuschauen vermochte. Trotz der Scientology-Ängste befand sie sich in Hochstimmung, nicht wie früher, als sie an der Seite ihrer Mutter in die Stadt marschierte. Irgendetwas war anders. Völlig fremd. Sie war allein. Ja. Aber das war sie ja schon seit längerem. Es war unerklärbar. Wunderbar. Unbekannt. Eine neue Droge, auf die sie sich schwang. Aber sie hatte nichts genommen. Was war es dann? Ein neues Geheimnis. Nur diese eine Saite im Gehirn mußte springen. Wie in einem dieser Schubertlieder, die sie in den letzten Wochen immer wieder auf CD gespielt hatte.
Sie ging die Treppen hinab zum Auto. Ließ es an und flog mit dem Radio auf Hochtouren in die Stadt.
„Die Haare müssen ab!“ erklärte sie dem fassungslosen Friseur. „Aber Sie können doch nicht...diese wundervolle Haarpracht...“ Er japste nach Luft. „Doch, ich kann!“ erwiderte sie in eiskaltem Ton. „Dann ist es gut.“ „Sie werden das gründlich bereuen.“ „Paah, nichts werde ich, ich werde mich freuen, frei fühlen.“ Sie erinnerte sich an die Worte ihres Mannes: „Wenn du dir nochmal die Haare so kurz schneiden läßt, wie sie dir immer deine Mutter schneiden ließ, dann...“ Ja was, ja was würde geschehen? Er hatte es nie ausgesprochen. Schnitt. Das erste Haarbüschel fiel. Schnitt. Ein weiteres Haarbüschel. Sie starrte an die Decke und ihr Blick fiel auf den Lüftungsschacht. Schnitt. Ein weiteres Haarbüschel fiel. Die Scientologen. Sie beobachteten sie. Er beobachtete sie. „Die Herdplatten sehen komisch aus. Weißt du nicht, wie man Spargel schneidet? Wir haben heute abend Gäste. Leg die Socken zusammen, sonst sind sie verloren. Der Hintern des Kleinen ist rot. Weißt du nicht, wie man ein Kind zu pflegen hat?“ Und dann tropfte es auf sie, steter Tropf höhlt den Stein, direkt auf sie herab, tropfte immer weiter, befeuchtete ihr kaum trockenes Haar aus dem Lüftungsschacht. Er ließ sie von seinen Scientolgen beobachten. Das war klar. Die Haare waren ab. Der Friseur hatte schon begonnen zu fönen. Sie ließ die Prozedur über sich ergehen. Es gab kein Zurück mehr. An der Kasse angelangt bezahlte sie schnell die 90 DM und begann dann sogleich, sich unter die Massen zu mischen.
Nein, nicht Zara. Er wußte, daß sie dort einkaufte. Fischer. Ja, vielleicht. Aber möglicherweise war er auch scientologyverseucht. Wo sollte sie hingehen, um einen neuen Wintermantel zu kaufen? Immer wieder in den Schaufensterscheiben, während sie durch die Stadt wankte, starrte ihr der kahlgeschorene Kopf entgegen. „Ja, Mama, endlich wirst du mich lieben“, sagte sie zu sich.
Schließlich betrat sie den teuersten Laden in der ganzen Stadt. Niemals hätte sie jemals gewagt, diese Schwelle zu übertreten. Aber heute, ja heute war der Tag gekommen. Ja, es war ihr Tag, ihr „perfekt Day!“ Sie probierte den Mantel, den sie ihm Schaufenster gesehen hatte, befand, daß er gut aussah, sie kleidete, ging zur Kasse und bezahlte. 3000 DM. Paah, was waren schon 3000 DM. Ihr Mann verdiente schließlich weit mehr monatlich.
Sie blickte auf die Uhr. Es war noch Zeit, bevor ihr Mann nach Hause kam, einen Abstecher beim Autohändler zu machen. Ihr alter Golf war zwar noch in Schuß, aber sie wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich mal Ferrari zu fahren. Der Ferrarihändler schien sehr nett zu sein, wenn bloß nicht diese Pokennarben im Gesicht wären. Sie mußte immer wieder dorthin starren. Sie tippte auf Akne in den Jugendjahren. Wenn er lächelte, zeigte sich eine Reihe blanker Zähne. Während sie ihre Bedürfnisse vortrug - ihre Worte überschwemmten den armen Autohändler wie ein Wasserfall; sie sprach ohne Punkt und Komma, so als ob es um ihr Leben ging - spürte sie, wie sich etwas in ihren Rücken bohrte. Mitten im Satz drehte sie sich um und da standen sie, zwei Männer in dunklen Mänteln und fixierten sie. Das mußten sie sein. Sie waren garantiert von der Scientology. Hastig, etwas verwirrt drehte sie sich um und vollendete ihren Satz: „und deshalb möchte ich eine Probefahrt machen.“ Der Autohändler und sie erhoben sich, um das ersehnte Auto zu begutachten. „Das ist er!“ schrie sie beglückt! Ein Cabrio. Wunderbar.“ Das Rot des Wagens blitzte in der Sonne. Der Autohändler öffnete ihr die Tür und sie setzte sich hinein. Beglückt lachend fragte sie: „Wie lange habe ich Zeit?“ „Eine Stunde in etwa“ kam prompt die Antwort. „Prima“ rief sie und ließ den Wagen an. Während sie langsam auf die Ausfahrt zurollte, bemerkte sie, wie die zwei schwarzgekleideten Männer in einen dunkelblauen Ferrari stiegen. „Nun gut.“ sagte sie zu sich. „Ihr wollt eine Verfolgungsjagd? Die bekommt ihr.“ Sie nahm ziemlich schnell Kurs auf die Landstraße. Immer wieder beobachtete sie im Rückspiegel, ob ihr die zwei Männer folgten. Sie wollten sich anscheinend nicht abschütteln lassen. Als sie schließlich auf der Landstraße war, drückte sie das Gaspedal herunter. Sie jubilierte. Ihr Kopf schoß voraus. Das Hochgefühl machte sich wieder breit. Es war wie in einer Manie. Ja, vielleicht war es das. Es war eine Manie...
bis sie gegen den nächsten Baum raste.
Langsam begann sie sich zu regen. Sie betrachtete ihren Kopf im Rückspiegel. Die Stirn und das kurze Haar waren von Blutspuren durchzogen. Sie stieg aus dem Wagen, blickte um sich und begann dann hysterisch, wie wild geworden zu lachen. Sie hatte sie abgehängt. Es war ihr perfekter Tag. „Jetzt ist es gut.“ dachte sie.
Hallo Robert. Diesmal sags bitte gleich, ob sich die Überarbeitung lohnt. Denn dann muß ich keine Gedanken mehr an unsinnige Texte verwenden. Danke
Grüße von Bo
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