Del Marco
"Wie heißt du?" fragte sie und sah durch das Fenster des Lokals nach draußen, an dem die Regentropfen herunterliefen - nebeneinander, ineinander, auseinander. Er sagte etwas mit dieser weichen, melancholischen Stimme. Sie verstand es nicht wirklich, denn aus den Lautsprechern plärrte die Nummer eins der Hitparade.
Sie fuhr mit einem Finger den Rand des Bierglases entlang. Langsam, bedächtig, die Kreise und die Gedanken immer enger ziehend, in einer Spirale in die Mitte der Untiefe. Mit einem Mal erschien es ihr seltsam, ja fast absurd, dass sie ihn nun nach seinem Namen fragte. Ebenso seltsam und absurd wie die Geschichte, die er ihr ungefragt erzählt und nun beendet hatte. Sie spürte etwas auf sich ruhen. Es war nicht nur sein Blick, nein. Röntgenblick - Hypnose, kam ihr in den Sinn. Aber das passte nicht zu ihm und seiner Geschichte. Es dauerte einige Zeit, bis sie den Blick aus ihrem Glas befreien konnte und zu ihm aufsah. Die Moral der Geschichte stand weder im Glas noch in seinen Augen zu lesen, also wandte sie sich wieder den gleichmütigen Tropfen am Fenster zu.
Als sie seine zaghaften Fingerspitzen auf ihrem Handgelenk spürte, erschrak sie und zog die Hand heftig zurück. "Lass es!" sagte sie bestimmt.
Ohne, dass sie etwas dagegen tun konnte, erschien plötzlich dieses Mädchen vor ihr. Zart, blond, feenhaft, noch keine dreiundzwanzig. Das Mädchen trat auf ihn zu. Er stand auf, nur mehr Augen für sie. Für ein Geschöpf, unschuldig, jung, verführbar. Das Mädchen stand sehr dicht vor ihm, blickte ihn aus großen Augen an.
Taktik? fragte sie sich, während sie mit dem unbehaglichen Gefühl haderte, dass er sie zum Zusehen brachte, um seine Geschichte nun zu erleben. Sie zog die Schultern hoch, sie wollte nicht Zeugin jener unbeschreiblichen Intimität werden, deren Tragweite er bestritten hatte.
Das Mädchen stand noch immer reglos vor ihm, doch er hatte ihren Kopf in seine Hände gebettet, seine Blicke tasteten zärtlich über das junge, unbeschriebene Gesicht, in dem bisher weder das Leben noch das Alter ihre Spuren gezogen hatten. Seine Blicke küssten die flatternden Lider, die rundliche Nasenspitze. Langsam begann das Gesicht des Mädchens aufzuglühen, eine sanfte Röte zog sich über die Wangen bis zum Haaransatz. Seine Finger spielten mit ihrem feinen Blond, er führte einzelne Locken an seine Wange, an seine Lippen.
Beunruhigt spürte sie, wie das Blut in ihren eigenen Wangen zu toben begann. Konnte es denn sein, dass sie seine Berührungen mehr empfand, als das Mädchen? Ihr Blut, pulsierend und tobend, bahnte sich unaufhaltsam seinen Weg in das Zentrum ihres Verlangens, einen Umweg über ihre Phantasie nehmend. Gebannt starrte sie auf das Mädchen und auf ihn.
Das Mädchen nahm nun seine Hand in ihre beiden, führte sie zaghaft an ihre Wange, ihren Hals. Die Körper berührten einander nicht, würden es auch nie tun. Das hatte er ihr versichert. Der Blick des Mädchens war verschleiert. Eine dunkle, entsagende Sehnsucht drang durch diesen Blick in jede Faser seines Körpers. Die höchste Lust im körperlichen Nichtbesitzen zu finden, die Qualen im Fegefeuer des Verlangens, warum suchte er dieses Leiden?
Sie spürte seine Qualen beinahe körperlich und fragte sich, ob das Leben, das Alter seine Furchen wie Stigmata in ihrer Seele gezogen hatte. Das Mädchen schien nichts dergleichen zu empfinden, es ließ ihn gewähren, neugierig, lebenshungrig, bereit zu neuen Erfahrungen, es vertraute ihm.
Die beiden drehten sich langsam in ihre Richtung, sodass sie den Rücken des Mädchens vor Augen hatte. Es fesselte und beunruhigte sie zugleich, dass er nun nur mehr Augen für sie hatte, nicht für das Mädchen. Sein Blick, in dem sie alles lesen konnte, was der Entsagung spöttisch ins Gesicht lachte, sprach zu ihr. In einer Sprache, die das Mädchen nicht verstand, nicht verstehen konnte. Sie schlug die Augen nieder. Zum ersten Mal verschämt, seit damals, als sie selbst das unbeschriebene Blatt gewesen war und vertraut hatte.
Doch dann, - war es die Lust, die er in ihr angestachelt hatte, war es die Rebellion gegen seine Spielregeln? - hob sie ruckartig den Kopf.
"Nimm deine Maske ab!" sagte sie, während sie gewillt war, seinem Blick standzuhalten. Langsam, ohne den Blick, diesen eindringlichen, eindringenden, von ihrem abzuwenden, nahm er die schwarze Larve von den Augen und legte sie in ihre Hand.
"Ich bin aber keine dreiundzwanzig mehr!" sagte sie und nahm seine Finger. Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte er.
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