Mein Bruder saß neben mir. Seine Hände rupften das verbrannte Gras. Hier und da zerquetschte er mit seinen Fingern eine Ameise. Ich hatte meine Schuhe ausgezogen und blinzelte in die Sonne. Wir warteten auf die Ankunft des Dampfers. Über dem See lag eine Dunstglocke. Ein Schwan reckte stolz seinen langen Hals in die Luft. Ich fixierte meinen Blick auf einen Punkt am Horizont. Dabei vergaß ich alles um mich herum. Sogar, daß ich einen Bruder hatte. Und daß er das gleiche T-Shirt wie ich trug. Wenn fremde Leute uns sahen, dachten sie immer, wir wären Zwillinge. Nur daß ich ihn um zehn Zentimeter überragte. Er war 11 Monate jünger als ich. Am Telefon waren unsere Stimmen nicht auseinander zu halten. Konnte ich es ignorieren, daß ein männliches Ebenbild meiner selbst auf der Erde herumwandelte? Ich meine schon. Wie öde es war, auf Geburtstagspartys von Freundinnen immer mit dem kleinen Bruder im Schlepptau aufzutauchen. Er war immer im Weg, wenn wir mit unseren Barbiepuppen spielen wollten. Einmal hatten meine Freundin und ich ihn beim Skifahren dabei. Er ging uns auf der Piste verloren. An jenem Tag herrschten 20° Minus. Meine Eltern fanden ihn auf einer Hätte mit halb erfrorenen Händen laut heulend. Sollte ich jetzt daran schuld sein? Ich meine nein. Und immer war es er, der sich etwas brach und von den Schienen fiel und seine Wade in eine Schraube rammte, so daß es blutete. Immer hatte er die Aufmerksamkeit. Wie eifersüchtig ich war, als sein Arm in Gips lag. Sein Gips war ganz vollgeschrieben. Nur mein Name fehlte.
Am Horizont rückte endlich der Dampfer näher. Ich wurde aufgeregt. Das erste Mal auf einem Schiff. Ich rannte auf den Steinstrand und begann zu winken. Mein Bruder hinterher, meine Bewegungen imitierend. Als der Dampfer anlegte, betraten mein Bruder und ich mit unseren Eltern zusammen das Schiff. Wie spannend es war, über den wackligen Landungssteg zu laufen. Und dann das Röhren der Motoren beim Ablegen. Wir setzten uns auf das obere Deck in die Sonne. Meine Mutter fotografiert uns, wie wir in den blendend weißen Liegestühlen saßen, meinen Bruder und mich mit den bonbonfarbigen Sonnenbrillen auf und in den blau-weiß geringelten T-Shirts. Danach stand ich auf und lief an das Heck. Als ich in die brodelnde weiße Gischt starrte, überfiel mich ein komisches Gefühl. Mein Bruder war mir hinterher gelaufen. Er lehnte sich weit vornüber und tat es mir gleich. Aber er hatte sich zu stark vorgelehnt. Kurz darauf fiel er in das tobende Wasser. Ich sah ihn noch mit den Armen winken und hörte, daß er schrie. Ich kehrte zurück auf den Platz neben meinen Eltern. Mit keinem Wort erwähnte ich, was passiert war. Meinen Bruder hatte es doch gar nicht gegeben.
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