Ich sitze in meinem Arbeitszimmer und habe eine Jalousie heruntergelassen. Durch das freie Fenster sehe ich, daß die Sonne scheint. Das Grün der Bäume. Ich kann es nicht anschauen. Ich konnte es noch nie anschauen. Ich trage schwarz. Immer trage ich schwarz.
Vor etwa dreißig Jahren saßen mein Bruder und ich auf der Rückbank und stritten um einen Keks. Die Blicke der Eltern wanderten nach hinten und versuchten zu schlichten. Wir fuhren schon durch den Tunnel. Die Lichter der entgegenkommenden Autos blendeten mich. Aus einem Munde ertönte es: „Wann sind wir endlich da?“ Mein Vater antwortete in barschem Ton: „Geduld da hinten, es sind noch fünf Minuten.“ Wir beruhigten uns und schließlich gelangten wir an. Das kleine schwäbische Häuschen mit dem großen Garten schien schon von der Ferne zu winken. Mein Bruder und ich rissen die Türen auf. Wir konnten es kaum erwarten. Ich war als erste am Gartentor und drückte auf den schwarzen Knopf hinter dem Briefkasten. Das Tor öffnete sich. Mein Bruder und ich rannten die gefährlich steilen schiefen Stiegen hinauf und hielten kurz an. Da war die schwarze Katze. Sie schmollte in einem fliederfarbenen Blumenbeet. Als sie uns sah, zuckte sie kurz und schon war sie weg. „Wie schade, die Katze ist abgehauen!“ Schnell schossen wir weiter. Sie stand in der Küche hinter dunstbezogenen Scheiben. Als sie uns sah, trat sie sogleich erwartungsvoll in den Flur und öffnete die Tür. Sobald es summte, stießen mein Bruder und ich die Tür auf und stürzten durch den Flur, der mit seinem leichten Modergeruch an ein altes Haus gemahnte, und stürzten auf sie zu. Sie erdrückte uns fast mit ihren Umarmungen. Während ihre süßliche Stimme erklang, japsten wir nach Luft. Wir machten uns los und rannten weiter, um uns der Wohnung zu bemächtigen. Ich blickte nochmals zurück und sah sie aufrecht von schlanker Gestalt mit dunkelblauem Kostüm bekleidet in der Tür stehen. Sie trug schwarze Seidenstrumpfhosen. Es war ein Hochsommertag. Ihr Kreuz war durchgedrückt. Aber es wirkte nicht so, als ob sie einen Stock verschluckt hätte. Ihr haftete eine natürliche Majestät an. Ich kannte sie nicht anders, als mit weißer allwöchentlich vom Friseur zurechtgemachter Haarpracht. Etwas unwirkliches war an diesen Wellen, da sie im Licht glänzten. Als ob sie einen Heiligenschein hätte. Die Großmutter war etwas ganz besonderes, da wir sie selten besuchten. Vielleicht rührte es daher, daß ich sie glorifizierte. Oder war der Grund, daß sie seit dem Krieg alleine war, ohne Mann? Der Großvater war im Krieg an Tuberkoulose gestorben. Berichten zufolge weiß ich heute, daß er desöfteren mit der Pistole im Anschlag am Fenster saß und unkontrolliert Schüsse abfeuerte. Soweit mir bekannt ist, hat er nie jemanden getroffen. Ich kannte nur das Grab. Es befand sich auf dem Friedhof neben der Straße, wo das Haus der Großmutter stand. Sie pflegte dieses Grab mit besonderer Hingabe, indem sie es allwöchentlich mit frischen Blumen versorgte. Zuerst der Verlust des Mannes und dann der der beiden Kinder, als sie aus dem Haus gegangen waren. Seitdem war sie allein verblieben. Sie hatte all die Jahre das Alleinsein gepflegt, gleich einem zarten Pflänzchen. Ich vergewisserte mich nocheinmal. Doch, die Großmutter hatte einen Stolz in ihrem Blick. Auch wenn die Brillengläser ihn versteckten.
Ich wandte mich ab. Und dann fand schon die nächste Keilerei im Wohn zimmer statt. Mein Bruder und ich schmissen uns die Häkelkissen gegenseitig ins Gesicht. Das vom Vater gemalte Ölbild, ein Stilleben mit Früchten hing schon schief an der Wand. Meine Mutter trat dazwischen und gemahnte uns, ruhig zu sein.
Da unsere Eltern in der Stadt Erledigungen zu machen hatten, sollten mein Bruder und ich den Nachmittag bei der Großmutter verbringen. Als sie weg waren, lockte sie uns mit einem Körbchen, in dem sich Goldschätze verbargen. Winzig kleine Teller, auf die man Puppentassen setzen konnte. Wir verbreiteten die Schätze auf dem Teppichboden und schon war der nächste Streit ausgebrochen. Wer durfte die Puppentasse auf den Teller setzen? Ich zog meinen Bruder an den Haaren. Meine Großmutter schrie auf: „Annette!“ Die Betonung lag auf dem A, nicht auf dem e. Nie hatte mich jemals jemand so angerufen wie sie. Ich erschrak und verblüfft ließ ich meinen Bruder los. Die Großmutter beruhigte sich ebenfalls und ihre dunklen braunen Augen lagen auf uns. Die süße Stimme beschwichtigte uns und langsam verblaßte der Streit.
Von der Küchentür wehte das Geklapper der Teller. Das hieß Essenszeit. Zuerst mampften wir das Gulasch in seiner dunklen sämigen Soße. Dazu selbstgemachte Spätzle und Salat. Die Großmutter ließ währenddessen ihre Blicke über unsere Köpfe schweifen. Sie wollte nichts essen. Sie betonte, ihr Hefekranz mit Kakao genossen reiche ihr aus. Zwischen den Bissen betrachtete ich ihren von Muttermalen übersäten nackten Arm. War es normal, daß man im Alter so viele Flecken bekam? Trug sie deshalb diese schwarzen Strumpfhosen? Als ich laut schmatzte, fragte die Großmutter, ob ich auch brav Klavier übte. Ich bestätigte ihr, daß ich jeden Tag eine halbe Stunde übte. Als wir unsere Teller leergegessen hatten, stand die Großmutter auf und holte den Höhepunkt des Tages vom Kachelofen. Mein Bruder rutschte auf seinem Stuhl neben mir schon unruhig hin und her. Der Schokoladenpudding mit Vanillesoße mundete nirgends besser, denn sie kochte ihn mit so viel Zucker, daß es jedes Kinderherz höher schlagen ließ. Ihre Äußerung dazu lautete jedesmal: „Ich hab‘s gern süß.“
Wir erhoben uns. Die Großmutter ging in die Küche und mein Bruder und ich spielten Lego. Als die sie nach einer Viertelstunde zurückkehrte, ging sie auf den Balkon. Er war mit Kunstrasen ausgelegt. Sie holte die Gießkanne und goß die Geranien. Mein Bruder und ich betraten währenddessen den kleinen Abhang neben dem Balkon und folgtem dem Pfad durch das wild wuchernde Gestrüp. Danach tat ich kund, daß ich auf die Toilette müsste. „Aber Annette, du weißt doch, wo die Toilette ist.“ Ich machte mich auf den Weg, durchschritt den engen Vorraum, wo sich das winzige Waschbecken befand und schloß hinter mir die Tür. Ein anderes Loch als daheim starrte mir entgegen. Würde es Ungeheuer bergen, die mir in den Hintern bissen. Vorsichtig setzte ich mich auf die Klobrille. Links neben mir befand sich ein Haufen in kleine Stücke geschnittenes Zeitungspapier. Rechts das Klopapier. Mein Arm glitt, als ich fertig war, nach rechts. Das Schloß ließ sich schwer drehen. Ich hatte immer Angst, ich könnte hinter Schloß und Riegel sitzend den Rest meines Daseins im Klo verbringen. Ich brachte es fertig und die Tür öffnete sich. Ich war ganz stolz. Ich drehte den kleinen Wasserhahn auf und wusch mir die Hände. Die Großmutter und mein Bruder waren im Garten. Mein Bruder hatte sich schon die Arme an dem Stachelbeergestrüpp zerschnitten. Ich tat es ihm gleich und kostete von den sauren Beeren. Mein Bruder und ich schüttelten uns. Dann gingen wir zu den Johannisbeeren. Aber die waren genauso sauer.
Der Himmel hat sich verdunkelt. Ein Gewitter ist im Anrollen. Die ersten Donnerschläge dröhnen von der Ferne. Ich suche die Buchstaben auf der Tastatur. Meine schwarze Bluse ist durchgeschwitzt. Ein Telefonanruf ereilt mich. Ich will die Jalousie nicht hochziehen. Das Gewitter hinter einer schwarzen Scheibe. Die ersten Regentropfen auf der Jalousie.
Meine Eltern stehen an dem Bett der Großmutter. Sie haben das Fenster geöffnet. Der Frühling mit seinem Vogelgezwitscher drängt herein. Die Augen der Großmutter sind geschlossen. Und dann erhebt sich von dem Apfelbaum, der seine blühenden Arme durch das Fenster streckt, eine schwarze Krähe. Der Flügelschlag verdunkelt kurz die Sicht aus dem Fenster. Die Großmutter atmet nocheinmal auf. Dann erlischt sie.
Sie ist mit 95 Jahren gestorben. Ich kann es heute noch nicht glauben, daß diese Persönlichkeit von mir gegangen ist.
Und dann kommt er mit seinen mächtigen Schwingen, der Gewitterregen und prasselt wild gegen die Jalousie. Das Dröhnen wird immer lauter. Und ich immer kleiner. Bis ich es dem Gewitterregen gleich tue. Ich weine.
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