soll ein Beispiel sein für Tux
ist sicher nicht nur in Lektorenaugen 100 pro
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Milch holen
Ich schiebe meine Wangen im Gesicht herum. „Was soll ich tun Mutti?“
Mutti in ihrer bunten Kittelschürze steht am Abwaschtisch und spült das Geschirr. Gerade dreht sie mit einem Fahrtuch den Rand einer großen Emailleschüssel vom Schaum frei und stellt sie in das andere Becken des Tisches.
„Musch, du könntest zu Timm gehen und Milch holen.“
Musch, das bin ich. Die Kleine da auf der Fußbank, die ihre Wangen durch das Gesicht schiebt. Ich habe nämlich Langeweile und schaue Mutti zu, wie sie abwäscht.
„Du weißt doch, Milchmann Timm?“
Ja, ich weiß wo Milchmann Timm wohnt und auch, wie ich dahin komme.
Mutti baumelt das Geschirrtuch an den Paradehalter und reicht mir das Netz mit den leeren Flaschen. Sie wickelt die Münzen in ein Papier, auf das sie noch schnell etwas schreibt.
„So, dies Päckchen gibst du Frau Timm und lässt dir zwei Liter Milch dafür geben.“
Mutti hilft mir noch in die braune Strickjacke die zu meinem Röckchen mit den gelben Elefanten passt. Und schon marschiere ich singend los.
Man braucht nur unsere Straße geradeaus zu gehen und da hinten bei der großen Tanne abbiegen. Da wohnt Olaf, aber der kann noch nicht auf der Straße spielen. Olaf ist gerade ein Baby. Das finde ich süß und macht mich neugierig, weil wir bald auch ein Baby haben.
Aber zuerst muss ich noch den langen Geradeausweg gehen, den mit dem gelben Fußboden, so gelb wie die Asche im Ofen immer ist, wenn man sie im Winter ausgestreut hat.
An einigen Stellen ist die Straße voller Löcher und ausgetreten und nun sind Pfützen darin. Ich springe über eine Pfütze hinweg. Das Netz mit den Flaschen schwingt klirrend zwischen meine springenden Beine. Das ist gerade noch einmal gut gegangen. Ich wickle das Netz kürzer, damit die Flaschen nicht auf den Boden streichen. Das schlurft immer so, als wäre da jemand hinter mir und ich muss mich dann zu oft umgucken. Es soll nämlich hier den schwarzen Mann geben. Vor dem muss ich mich in Acht nehmen sagt Mutti. Der schnackt kleine Kinder mit und tut ihnen Böses.
Jetzt, da wo die Holunderbüsche sind, da wohnt im dichten Grün der Kohlenmann. Bei dem kaufen wir aber nie. Der Kohlenmann hat eine bunte Blumenwiese, doch Ernie, das Schaf ist heute nicht da. Schade, das ist immer so kuschelig und kommt auch an den Zaun. Bertha und Kunigunde, die Schafe unserer Nachbarn, die stehen immer woanders auf der Heide. Weil, die werden mit einem Stab und einer Kette festgehalten. Na, das ist eine andere Geschichte. Ich soll ja Milch holen gehen und keine Schafe.
Ich könnte ja auf dem Trampelweg vorbeigehen und mal gucken, aber ich bin mit Mutti dort noch nie entlang gegangen. So gehe ich weiter geradeaus. Die Stämme von den vielen Tannen mit den grünen Hauben, die sind sowieso so düster, ne, ich mag eigentlich auch nicht.
Bei Olaf an der Ecke recke ich meinen Kopf in die Hecke. Heute flattern Windeln an der Leine, aber sonst ist keiner da. Wieder umfasse ich mein Netz fester, weil die Flaschen doch ganz schön hin- und herwippen und Klirren, während ich mir die Gegend anschaue.
Den Rest des Weges singe ich, sonst ist‘s mir zu langweilig, denn der König-Heinrich-Weg ist eine richtige Straße mit Asphalt und da stehen keine Häuser am Straßenrand. Und, daß hier ein König wohnt, denke ich auch nicht. Und zum Fischmann will ich heute ja nicht. Eigentlich ist es eine Fischfrau, denn ihr Mann, der geht mit seinem weißen Stock immer zum Bus zur Arbeit. Aber auch ihn kann ich heute nicht sehen. Was ist der Tag aber auch langweilig. Ich würde dem Fischmann gerne mal in die Augen sehen, denn er soll blind sein.
Endlich, ich sehe das Straßenschild mit dem ellenlangen Namen: Langobardenweg. Ich weiß das. Dieser Weg heißt so, aber Lesen kann ich das Straßenschild noch nicht. Direkt neben dem Eckhaus, das Haus mit dem spitzen Giebel, das ist Milchmann Timm.
Heute steht kein Auto mit Karamellbonbons auf dem Vorplatz. Die duften immer so gut nach Vanille. Fünf Stück, gepackt wie ein Turm, die kosten einen Groschen. Ich muss mich mächtig anstrengen, um die hohen Zementstufen zum Laden zu erreichen.
Schon bei der letzten Stufe angekommen, sehe ich ganz viele Schuhe, viele Mäntel und Jacken im Laden und noch mehr Beine. Beine mit kräftigen Waden und durchsichtigen Strümpfen und einer dunklen Naht. Einige Mäntel sind ganz filzig und haben weiße Haare. Schnauf, ich bin da und dränge mich zwischen die Mäntel und Beine nach hinten durch, denn da kann ich Frau Timm sehen. Und wen ich sehe, der kann mich auch sehen.
über mir höre ich sie reden: „Ja, Frau Schulz ist wieder obenauf, aber nun stellen Sie sich nur vor, jetzt liegt der Mann im Krankenhaus. Unfall, im Hafen.“ „Ach nee“, höre ich die erstaunte Stimme von Frau Timm heraus, „was Sie nich sagen. Wasn da passiert?“
Ich drängle mich gleich nach hinten durch, bis zur niedrigen Wackeltür. Der Boden im Laden ist schwarz und hat lauter weiße Sprenkel. Die Sohlen der vielen Schuhe scharren schlurfend über den glatten Boden.
Wieder höre ich die Stimme von Frau Timm: „Oh, darf‘s noch ein büschen mehr sein?“ Ich höre auch Muttis Schimpfe in mir: Ein büschen, immer ein büschen , und dann hat man sein ganzes Geld wech! Sagt Mutti immer.
Nun sehe ich Frau Timm wie sie mit dem Holzmesser in den Butterblock auf Pergamentpapier sticht, der schon ganz zermaust aussieht. Meine Nasenflügel beben, hm Tilsiterduft zieht in meine Nase. Sehen kann ich keinen Käse, alles voller dicker Mäntel. Und der Käse liegt auf den Marmorplatten hinter der kleinen Scheibe. Und der duftet.
Sonst gibt es hier nur ganz viele hellgelbe Fliesen, einfache dunkle Regale an den Wänden und eine Wackeltür. Da stehe ich, damit man mich sieht mittenmang der vielen Mäntel und den schwatzenden Frauen.
Von hier kann ich gut sehen, wie die Aluminiumkannen auf dem Bock da so dick und groß stehen und wie die andere Frau von Frau Timm, die Antje eine Schöpfkelle mit einer Tölle nimmt und die Flaschen abfüllt. Nun ist die Flasche nicht mehr durchsichtig, sondern mit vanillegelber Milch gefällt. Alles ist blitzeblank. Mit einem Tuch wischt Antje die herablaufenden Tropfen nach. Dann nimmt sie die Flasche und hält sie unter so einen Hebelautomaten und drückt ihr den Aluminiumdeckel drauf. Das ist ganz modern. Letzte Woche hatten wir noch Pappdeckel auf den Flaschen und als ich das erste Mal Milch holen gegangen bin, benutzten wir eine Milchkanne aus Aluminium mit Deckel. Die war leichter als die Flaschen und wenn sie voll war, konnte man sie ganz wunderbar mit herumschwenken, wenn ich mich drehte. Die zog mich immer weiter aus dem Kreis und nicht einen Tropfen Milch habe ich verschüttet.
Warum wollen nur so viele Milch kaufen? Ich mag eigentlich keine Milch, nur Schokoladenpudding ohne diese eklige Haut.
Inzwischen fragt niemand mehr: Darf es noch etwas mehr sein, und niemand fragt, wie viel denn schon auf der Anschreibliste steht und ob man nicht nächste Woche, ja, am Dienstag ganz bestimmt zahlen dürfe. Das Scharren der Schuhsohlen ist auch verschwunden und es ist ganz still im Laden.
„Na mien Deern, wat wullst du den haben?“ sickert eine Stimme zu mir durch. Nun sind keine dicken Mäntel mehr da und ich sehe Frau Timm mit ihren roten Wangen, das kringelnde Haar unter ihrer Haube und die weiße Schürze, wie sie mich mit aufmunternden Augen anschaut.
Sind die Streifen der Bluse nun blau, ich kann darüber nicht mehr nachdenken. „Zwei Liter Milch möchte ich einholen.“ Gott sei Dank, Mutti hat mir Geld mitgegeben, welches ich eifrig Frau Timm entgegenstrecke.
Zwischen all den Mänteln in der Schlange bin ich bis zu dem Glas, hinter dem der Käse liegt, scharrend über den Boden mitgeschoben worden und muss nun zurück zur niedrigen Klapptür. Es ist ganz hell geworden im Laden. Komisch. Auch meine Einliterflaschen werden von der Kelle mit Milch abgefüllt und mit Aluminiumdeckel verschlossen. Frau Timm stellt mir die Milchflaschen auch wieder in mein Netz, reicht mir dazu einen Kirschlolli und sagt dazu: „Clara, das Geld reicht nicht, hier steht noch was angeschrieben, bitte richte das deiner Mutter aus.“ Mir wird es sehr warm im Gesicht und ich schiebe schnell den Kirschlolli mit dem grünen Stiel in meinen Mund. „Ja, ja, ich richte es aus“, sage ich. Schnell weg hier.
Das Warten war eh so lang, dass ich ausgiebig die Borde mit den rot-weißen Dosen gemustert hatte. Glücksklee ist das. Das weiß ich auswendig. Jeden Morgen bekomme ich meine Tasse voll heißes Wasser mit Dosenmilch, Glücksklee. Ich mag keine frische Milch und ich kann noch nicht lesen. Auf den Regalen stehen auch Kühe, aus Pappe, die sind rot-weiß kariert. Ich hätte ja viel lieber die kleine hellblaue Dose mit dem lieb und drollig guckendem Bären in mein Wasser geschüttet, aber Mutti sagte immer, die seien zu teuer und die Dose sei viel zu klein.
Auf dem Rückweg sind die Flaschen sehr schwer und immer wieder schlunzt das Baumwollnetz am Boden. Bei der Pfütze passiert es. Es rutscht mir eine Flasche auf den Boden und zerspringt. Das Netz hat schon wieder ein Loch bekommen. Flink greife ich, um die zweite Flasche zu retten, doch leider drücke ich dabei den Aluminiumdeckel ein und schütte die ganze Milch über mich. Heul, alle Anstrengung umsonst. Alles klebt an mir. Die Milchspur rinnt von der aschegelben Straße in eine Pfütze. Das Singen ist mir vergangen. So eine Meierei.
Copyright Dez 2001
Schreiblaune
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