Die knöchernen Finger spielten mit selbstvergessenen Träumen. Thanatos breitete seine Schwingen aus. Wie jung er doch war! Saß ihr gegenüber und faßte sich mit einer Geste in das ergraute Haar. „Herrmännle, wie alt bist du jetzt?“
„Aber Mutter, du weißt doch. Ich geh auf die siebzig zu.“
Sie erhob sich und holte das Essen. Gulasch für mein Herrmännle. Er starrte derweil fremd auf die Ölbilder, die er als zwanzigjähriger gemalt hatte, auf die Geranien auf der Terrasse, die die Mutter seit zwanzig Jahren pflegte, auf die Bücherregale, die immer noch die gleichen Rücken trugen, wie zu seiner Jugendzeit. Er faltete die Hände ineinander. Ihm wurde feierlich zumute. Wann war er das letzte Mal hier bei ihr gewesen? Vor zwanzig Jahren? Er konnte sich nicht erinnern. Wieviel wert war eine Erinnerung? Was trug sie in sich? Taugte eine Erinnerung erst, wenn jemand tot war? Ein immenser Berg von Schulden türmte sich vor ihm auf. Schuld, die keine Zeit zurückbringen könnte. Die Schuld, sie zwanzig Jahre lang alleine gelassen zu haben. Sie kehrte mit dem Gulasch zurück.
„Schön, daß du da bist Herrmännle.“ Dabei faßte sie ihn fest an der Schulter. Sie hatte ihm verziehen. Aber die Schuld drückte ihn in Grund und Boden. Sie trug ihm das Essen auf. Er nahm den ersten Bissen. Das Gulasch war zäh. Er mußte ihr das verzeihen, so wie sie ihm verziehen hatte. Schweigend aß er den ganzen Teller auf. Sie kaute immer noch an den drei Brocken Fleisch, die sich aufgelegt hatte.
„Mutter, willst du nicht etwas mehr essen? Du fällst ja vom Fleisch.“ „Ach Herrmännle, in meinem Alter. Da will man nicht mehr so recht. Mit mir geht‘s bergab. Ich wünschte, ich könnte sterben.“
„Mutter, sag sowas nicht. Jetzt bin ich zuerst mal da.“
„Was macht dein Herzinfarkt. Du hast vor Jahren davon geschrieben.“ - „Keine Sorge, Mutter, ist alles intakt. Der Bypass war perfekt.“
Nach dem Essen setzten sie sich vor den Fernseher. Er war so laut gestellt, daß er nur noch mit seinem Bier rang, das sie ihm hingestellt hatte. Oktoberfestbier. Ein Jahr her. War das schon abgelaufen? Konnte Bier überhaupt ablaufen? Er wollte ihr das verzeihen. Genauso, wie sie das Gespräch auf den Herzinfarkt gelenkt hatte. Er war beim dritten Bier angelangt. Die schöne junge Fernsehsprecherin sprach vom Krieg. Seine Mutter starrte wie gebannt auf den Apparat. Er sah die Brillengläser widergespiegelt in dem Monitor. Er sah sie schon leicht doppelt. Nicht nur die Ansagerin, sondern auch die Brillengläser.
Er seufzte: „Mutter wer könnte es zurückbringen?“
Die Mutter war hellwach und antwortete: „Den Krieg?“
„Ach Mutter, was redest du von Krieg, ich meine die vergangenen Jahre.“ „Ach Herrmännle, dein Vater ist im Krieg geblieben. Ich schau fern und sehe Krieg. Das ist das einzige, was mich fesselt seit sechzig Jahren.“ Er sah ihre Brille nun in einer Multiviisionsshow. Dreifach.
Er faßte sich ein Herz: Er sagte: „Mutter, ich gehe ins Bett.“
Er fand das Bett wie vor vierzig Jahren vor. Nur das Bild seiner Tochter hing im Raum. Befremdet starrte er es an. Wann hatte die Mutter das Bild hier hingehängt? Er ging ihn das Bad, um sich die Zähne zu putzen. Er schrubbte sie, nein er meißelte sie. Warum, verdammt hing das Bild seiner Tochter in seinem Zimmer? Es war sein Zimmer. Sie hatte es zu dem Zimmer seiner Tochter gemacht. Die Zahnbürste fand kein Ende. Toste auf und ab. Gleich einem Vulkan verschlang die Zahnbürste die Zähne.
Er ging zurück und starrte nochmals auf das Bild. Sie lächelte. Eine Zahnlucke zeigte sich. Der rechte Schneidezahn fehlte. Die blonden Haare waren vom Wind zu einer ungestümen Bubenfrisur verweht. Die dunkelbraunen Augen leuchteten. Es waren seine Augen. Überhaupt sah sie ihm ähnlich. Vielmehr sie war sein Ebenbild. Er erinnerte sich eines Fotos. Sie saß als einjährige auf seinem Arm. Er wollte ihr auf die dicke Backe küssen, während sie verwegen in die Kamera grinste. Er wandte sich ab. Die zwanzig Jahre hatten die Schuld nicht getilgt. Sie war nie groß geworden. Ein Unfall im Beisein seiner Mutter. Wie konnte er das seiner Mutter verzeihen?
Er fiel in einen unruhigen Schlaf. Von der Ferne konnte er noch die lauten Fernsehgeräusche erahnen. Wann immer er hochschreckte, fragte er sich, wann die Mutter ins Bett gehen würde. Einmal wieder riß es ihn wieder aus den Träumen. Er starrte auf seine Uhr. Es war drei Uhr morgens. Der Fernseher lief immer noch. Sollte er aufstehen? Er faßte sich ein Herz und stand mit wackligen Beinen auf. Er trat ins Wohnzimmer. Die Mutter saß im Sessel mit offenem Mund. Schnarchte sie? Er trat zu ihr. Kein Laut drang von ihren Lippen. Er nahm die Fernbedienung und stellte den Fernseher ab. Er beugte sich über sie. Wollte ihren Atem spüren. Aber jener war erloschen. Er konnte es nicht glauben. Sie hatten nicht mehr darüber geredet. Schluchzend fiel er vor ihr auf die Knie: „Mutter, ich verzeihe dir.“ Endlich war es von den Lippen.
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