Eine andere Art der Liebe
Raiser klopft seinen Oberkörper ab. Er senkt die Arme. Seltsam, er hätte wetten können. Er tritt zu seinem Mantel. Der hängt an einem aufdringlichen Haken neben der Eingangstür. Raiser findet in der Innentasche die Zigaretten und das Feuerzeug.
Ich darf nicht rauchen. Das ist der Grund für die schlecht durchbluteten Beine. Das hat der Arzt gesagt.
Raiser ist neunundreißig. Mit vierzig ist Schluss mit dem Rauchen. Vierzig ist die Hälfte des Lebens. Das wäre doch etwas. Jetzt ein Krebs, nachdem er die Stelle von Kerner hat und Geld verdient. Christine muss nicht mehr Halbtagsjobs machen. Sie kann zu Hause bleiben. Raiser hat gesund zu bleiben. Das ist er Christine und dem Büro schuldig.
Er raucht nur noch in Ausnahmesituationen. Der Gedanke ist ein gutes Alibi. Nur noch in Ausnahmesituationen rauchen. Auf jeden Fall weniger rauchen. Zwei Schachteln am Tag waren zu viel. Das weiß er auch ohne Arzt, erzählt ihm schließlich sein Schwager Henri bei jedem Treffen. Der isst nur noch vegetarische Vollkost und macht Jogging. Gut, das ist nicht schlimm. Jeder hat das Recht, den Tag auf seine Weise kaputt zu machen. Was ihn stört, ist das Sendungsbewusstsein, das Henri hat. Raiser käme mit seinem Schwager gut aus, wenn diese Unart nicht wäre. Ihm gefällt Henris Lächeln. Raiser sieht dann Christine, wie sie früher war.
Jetzt ist eine Ausnahmesituation. Raiser bringt sein Anzünderitual ruhig hinter sich. Niemand hier im Wartezimmer braucht zu bemerken, wie nötig er den Tabak hat. Das geht nur ihn und seine Beine etwas an.
Er wird beobachtet. Das spürt er, ohne aufzusehen. Dafür hat er einen Sinn entwickelt. In dem Großraumbüro, in dem er bisher arbeitete, wurde er immer beobachtet. Raiser spürt ein Zielen über der Nasenwurzel, genau in der Mitte der Stirn, an der Stelle, die seine als Schutz vor der Flamme des Feuerzeugs hochgezogenen Augenbrauen erreichen. Es ist ein kaltes Zielen, das er tief im Schädel spürt. Es kitzelt ihn. Aber noch sieht er nicht auf. Das wäre eine Blöße. Raiser überlegt, ob ihn eine der Frauen im Wartezimmer betrachtet. Der Gedanke gefällt ihm. Obwohl er meist treu ist, mag er kurze, erwartungslose Flirts.
Er versucht, sein Feuerzeug mit einer lässigen Handbewegung zu schließen. Dabei bemerkt er Unruhe. Sein Körper zittert. Der Unterleib ist kalt. Raiser nimmt einen tiefen Zug. Da ist ein beifälliges Nicken in seiner Lunge, als könne sie nur mit diesem Rauch richtig atmen.
Raiser sieht auf und seinem Beobachter in die Augen. Er hatte recht. Es ist eine Frau, leider nicht die, auf die er gehofft hat. Die kümmert sich gar nicht um ihn. Die andere, die Fette, ist es. Sie sieht allerdings sofort weg, runter in die Illustrierte, die auf ihren Oberschenkeln liegt.
Jetzt ist Raiser am Zug. Er beobachtet. Er ist der Meinung, dass er das gut kann: Die Fette ist in seinem Alter, vielleicht ein wenig jünger. Trotzdem sieht sie verbraucht aus, aufgedunsen, speckig. Das lockige, blonde Haar ist unvorteilhaft, verlogen. Ihre Bluse spannte über der beachtlichen und sehr tief auf dem Bauch aufliegenden Brust. Sie trägt eine Jerseyhose. Soll wohl das Fett verbergen, aber Raiser glaubt eher, es sei die einzige Sorte Hose, die dehnbar genug ist, ihr ein bequemes Sitzen zu ermöglichen. Er mag keine Jerseyhosen. Er verbindet mit ihnen penetranten Schweißgeruch.
Raiser ekelt sich. Der schlechte Geschmack auf der Zunge kann aber auch von der Zigarette kommen. Es ist seine erste in dieser Woche.
Aber noch sieht er nicht weg. Etwas fehlt noch. Raiser nimmt noch einen Zug und wartet. Diese Zigarette schmeckt überhaupt nicht. Der erste Zug war wunderbar gewesen, aber jetzt schmeckt der Rauch abgestanden, lau, da ist ein widerlicher Belag auf der Zunge.
Endlich blickt die Fette auf. Das musste kommen, darauf hat Raiser gewartet: Sie muss kontrollieren, ob er sie noch beobachtet. Nun ist sie ertappt, hat er sie. Ein kurzer Augenaufschlag, ein schnelles Wenden des Kopfes, Hilfesuchen im Raum. Alle sind mit sich und den Zeitschriften beschäftigt. Ihr Blick taucht erneut in die Illustrierte.
Sie ist rot geworden, bildet sich Raiser ein. Sie schämt sich. Er tritt nahe an die Frau heran, drückt seine halbgerauchte Zigarette in einem Aschenbecher auf dem niedrigen Tisch vor ihr aus. Sie reagiert nicht, starrt in ihr Magazin. Ruhig lehnt sich Raiser wieder an die Wand, schließt halb die Lider.
Seine Unruhe ist nicht vergangen, sie ist nicht einmal kleiner geworden, aber jetzt tritt Langeweile neben sie. Beide gemeinsam erzeugen zerfahrene Leere in seinen Gedanken. Raiser ist nun Körper und spürt. Der schwache Harndrang und das flaue Krampfen des Magens treten hervor. Er lehnt und bildet sich ein, Zeuge am Entstehen seines ersten Magengeschwürs zu sein. Raiser hat genau den Punkt, in dem sich die sanfte Übelkeit fast zum Schmerz verdichtet.
Er erinnert sich flüchtig an ein Molierestück, das er kürzlich im Stadttheater gesehen hat. Er kehrt zurück von seinem Ausflug in den eigenen Körper und entscheidet sich, zornig zu werden. Der Warteraum ist voll, abgefüllt. Raiser ist nicht der einzige, der steht. Auch die anderen Wartenden werden langsam unruhig.
Raiser kontrolliert mit einem schnellen, zornigen Bick die Uhr, drei, vier Leute im Raum ahmen sofort diese Geste nach. Er wartet jetzt beinahe eine Stunde. Wieder zählt der die Personen, die vor im da waren, es sind noch immer drei Leute.
Ich hätte zu Hause frühstücken können. Ich nehme mir einen Tag frei und stehe mir im Wartezimmer die Beine in den Bauch. Dabei muss ich noch wegen der Lohnsteuerkarte meiner Frau ins Einwohnermeldeamt. Die schließen Mittags. Ich will doch nur einen Befund abholen, den kann mir doch auch die Kleine am Empfang geben!
Hier entsteht ihm ein Gedanke, wird beherrschend, deutlich löst er sich aus dem wirren Knoten der anderen. Diesen Gedanken verdrängt er schnell. Von ihm will er nichts wissen.
Und wenn sie etwas ernsthaftes gefunden haben?
Das ist der Gedanke, den er nicht brauchen kann.
Die Tür neben ihm öffnet sich ein wenig. Die Arzthelferin streckt schüchtern ihren Kopf durch den entstanden Spalt, muss den Namen wiederholen, bis Raiser bemerkt, dass er gemeint ist. Er hebt er sich von der Wand, sieht kurz und entschuldigend in die Runde.
Raiser geht hinter dem Mädchen her. Sie sieht gut aus. Ärzte wählen ihre Sprechstundenhilfen nicht unbedingt nach sachlichen Gesichtspunkten aus. Das ist ihm symphatisch, erinnert ihn an seine Sekretärin.
Das Mädchen öffnet eine Tür, verzieht den Mund zu einer eingeübten, freundlichen Maske.
"Nehmen Sie doch bitte schon einmal Platz", sagt sie, "der Herr Doktor kommt sofort."
Raiser murmelt ein paar Worte, verfolgt den schwungvollen Abgang, die Beine unter dem knielangen weißen Rock.
Wäre nicht schlecht, wenn ich Zeit hätte...
Seine Hose ist ihm im Schritt zu eng. Er sucht sich schnell einen Stuhl, interessiert sich für den Raum, in dem er nun sitzt.
Hier sieht es ihm nicht wie ein medizinischer Untersuchungsraum, sondern nach dem Empfangzimmer eines Rechtsanwalts aus. Hübsch nach Farben sortierte Fachbücher beherrschen die Regale der linken Wand. Ein impressionistischer Druck hängt hinter dem Schreibtisch. Er ist aus schwerem Holz, die Arbeitplatte zumindest aus Marmorimitat. Geöffnete Aktenordner und kleine gelbe Notizblätter liegen auf ihr. Der Chefsessel dahinter hat einen dunkelbraunen, brüchigen Lederbezug. In der Ecke steht ein PC, dessen Bildschirm Werbung für ein Kopfschmerzmittel macht.
Der Stuhl, auf dem Raiser Platz genommen hat, wirkt schon weit weniger ehrfurchtgebietend. Und er ist niedrig, unbequem und quietscht, wenn er sich bewegt. Raiser fühlt sich wie ein Schüler, der wegen eines dummen Streiches auf den Direktor warten muss. Seine Erektion fällt so schnell in sich zusammen wie sie kam.
Hier ist rauchen sicherlich verboten. Erstaunlich genug, dass man im Wartezimmer...
Durch eine Seitentür, die Raiser bisher nicht bemerkt hat, kommt der Arzt herein. Er trägt ebenfalls die freundliche, aufgeschlossene Maske. In den Augen hat er diesen „Ich-glaube-an-das-Gute-im-Menschen“-Blick, der Ärzte und Pfaffen so vertrauenserweckend wirken lässt.
Und Psychologen. Die üben das, glaube ich.
Raiser steht unsicher auf.
Der Händedruck ist selbstverständlich fest und trocken. Der Arzt weiß den Namen seines Patienten, ohne auf den schmalen Akt in seiner linken Hand zu sehen.
„Nehmen Sie doch bitte wieder Platz, Herr Raiser. Wie geht es Ihnen heute?“ Er geht um den Tisch herum und setzt sich energisch in seinen Sessel.
Tatkraft, denkt Raiser, Lebensbejahung.
Er nickt nur. Er weiß: Der Arzt bereitet mit dieser Frage nur vor.
„Ist denn Ihre Frau heute nicht mitgekommen?“ Der Doktor lehnt sich nach vorn, über die Marmorplatte. Natürlich, er verschränkt seine Arme nicht. Er ist offen, spricht ein akzentuiertes, gedehntes Hochdeutsch. So würde Raiser nur mit Kindern oder Ausländern reden.
„Nein“, antwortet er, lehnt sich zurück. Die Lehne seines Stuhles quietscht.
Ich verschränke meine Arme, ich halte Abstand.
Der Gedanke ist wiedergekehrt. Raiser erwartet schlimme Nachrichten.
„Ja, Herr Raiser, die Probe ist ausgewertet. Ich habe das Ergebnis hier“, sagt der Arzt zögernd und macht eine Kunstpause.
„Ja“, wiederholt er, als ihm Raiser nicht antwortet, „es ist, wie wir erwartet haben: Ihre Frau, das wissen wir ja von den Untersuchungen, ist organisch völlig gesund: Sie ist in der Lage, ein Kind zu empfangen und auszutragen. Auch psychische Ursachen sind ja doch, so weit abzusehen, auszuschalten.“
Raiser wartet. Nichts neues bisher, aber jetzt lässt er die Katze aus dem Sack.
„Ich habe Ihre Probe ins Labor geschickt. Das Ergebnis des Spermiogramms ist jetzt definitiv. Es tut mir aufrichtig leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber Sie sind im Augenblick nicht zeugungsfähig...“
Jetzt sieht Raiser auf.
„Ja, sehen Sie, Herr... ahm, Raiser, es ist so: Einfach ausgedrückt ist Ihr Sperma verändert, es ist nicht fähig, sich zum Ei in der Gebärmutter vorwärts zu bewegen. Im Normalfall sind etwa 20 % der Spermien eines Ejakulates unbeweglich oder unreif. Bei Ihnen sind es nahezu alle. Das heißt, ihre Spermiogenese funktioniert nicht, wie sie sollte. Warum das so ist, lässt sich noch nicht sagen, dazu müssen wir eingehende Untersuchungen machen. Es gibt wahrscheinlich nicht nur eine Ursache. Umweltgifte, ja, Allergien spielen da eine Rolle, Spätfolgen von Erkrankungen, auch Hitze, wie in der Sauna zum Beispiel..., äh, in Amerika leidet laut neuesten Untersuchungen bereits jeder achte Mann zeitweise daran. Hier...“
Der Arzt beginnt nun näher zu erklären. Er nimmt sich Zeit, seine psychologische Aufgabe ernst, zeigt Mikroskopaufnahmen von Raisers und von gesundem Sperma, hat Statistiken bei der Hand.
Raiser sitzt wie betäubt. Er hört kaum, versteht wenig und nickt unaufhörlich. Sein Magen schmerzt wieder, er ist übersäuert, Sodbrennen steigt die Speiseröhre aufwärts.
Raiser erkennt: Er ist schockiert.
Nicken, das kann er.
Aber sonst?
Was ist eigentlich so schlimm an dieser Eröffnung, die er halb erwartet hat? Was ändert sich? Gut, kein Kind dann eben, zumindest nicht jetzt. Das ist doch nicht so schlimm.
Also liegt es an mir. Christine hat die erniedrigenden Untersuchungen ganz umsonst gemacht. Hätte ich mich nur früher überreden lassen, mein Sperma untersuchen zu lassen.
Warum ist er dann so entsetzt? Was schockiert ihn an den Aufnahmen seiner Spermien mit ihren abgeknickten, verdoppelten Schwänzen und ihren deformierten Köpfen? Sie sehen lächerlich hilflos und schwach aus. Sie sind verkrüppelt. Und sie kommen aus Raiser, aus seinem Selbst. Etwas versinkt, ein Selbstwertgefühl, eine Entscheidungskraft.
Der Arzt redet. Sein Thema sind nun wieder die Ursachen, die er im Augenblick nur mutmaßen könne, da Raiser organisch gesund sei. Umweltverschmutzung, Hypothyreose, Gifte in den Lebensmitteln, allergische Reaktionen, ungesunde Lebensweise...
„Sie rauchen, nicht wahr? Aber daran kann es eigentlich nicht liegen.“ Atempause, dann jovial:
„Das kann jedem passieren. Damit ist Ihr Wunsch nach einem Kind aber nicht unerfüllbar. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Veränderung an Ihren Spermien eine vorübergehende ist. Ich empfehle Ihnen dringend weitere Untersuchungen. Sie wissen, es gäbe da beispielsweise noch die Möglichkeit, ein Kind zu adoptieren, Sie sollten sich das gemeinsam mit Ihrer Frau ernsthaft überlegen...“
Der Arzt redet weiter, immer weiter. Er öffnet und schließt seinen Mund, stößt Laute aus, die Raiser nicht versteht. Er nickt.
Ich muss das erfassen. Was bedeutet das? Mir ist schwindlig, auch mein Atem ist anders. Der Arzt müsste das doch bemerken. Ich glaube, ich gehe gleich nach Hause, die dumme Lohnsteuerkarte muss eben warten. Ich werde mich ein wenig hinlegen. Ich muss jetzt nachdenken. Der Arzt steht auf. Was sagt er?
Auch Raiser hebt sich aus seinem unbequemen Stuhl. Das geht problemlos, trotz des Schwindels. Nur die Beine sind wieder einmal eingeschlafen.
Der Arzt nimmt ihn bei der Hand, will beruhigen. Raiser sieht ihn überrascht an.
Der ist älter als ich dachte. Er hat Falten. Wahrscheinlich ist sein Haar gefärbt. Vielleicht trägt er auch eine Perücke. Aber eine gute, ich sehe keinen Ansatz. Nein, das ist sein eigenes Haar, aber er hat es getönt.
Raiser will lächeln und sagen, dieser Beruf sei doch ganz schön anstrengend. Immer fröhlich und optimistisch sein. Er könne das nicht. Er will damit auch weiteren Vertröstungen zuvorkommen, zeigen, dass er verstanden hat.
Aber da fällt ihm sein Schwager ein. Bevor er sein Sodbrennen hinunterschlucken kann, sagt der Arzt:
„Sehen Sie, Herr Raiser, das ist kein Beinbruch. Sag ich immer. Sie sind genauso Mann wie vorher. Auf Ihr Geschlechtsleben hat das alles keinen Einfluss.“
Mach jetzt keinen Witz, denkt Raiser. Bitte. Mach keinen Witz.
Die Miene des Arztes wird augenblicklich ernst, als habe er Raiser verstanden.
„Ich kann verstehen“, sagt er, „dass Sie diese neue Situation im Moment etwas überfordert. Sie müssen ins Reine kommen. Das benötigt seine Zeit. Lassen Sie sich vorne bitte für weitere Untersuchungen einen neuen Termin geben. Wenn Sie darüber hinaus mit mir sprechen wollen, stehe ich ihnen im Rahmen meiner Sprechzeiten gerne zur Verfügung.“
Raiser hat sein Nicken wieder aufgenommen.
„Und denken Sie daran: Es hat sich nichts geändert. Sie sind immer noch der selbe.“
Ämter sind für Raiser niederdrückend, gewalttätig. Er fühlt sich dort in einem rechtsfreien Raum, wittert hinter jedem gleichmütigen Beamtengesicht einen Hinterhalt und Hass. Er ist überhaupt nur schwer zu überreden, in eine Behörde zu gehen. Christine muss ihre sämtlichen Überredungskünste anwenden.
„Guten Tag“, sagt er übertrieben freundlich, reicht Christines Personalausweis durch den Schalter.
„Meine Frau hat in diesem Jahr noch keine Lohnsteuerkarte bekommen. Man hat sie an ihrem Arbeitsplatz deswegen ermahnt.“
Der Beamte nickt langsam, sieht sich die abgenutzte, in Plastik eingeschweißte Karte so aufmerksam an, als würde er dort die Antwort auf jede Antwort finden.
„Einen Augenblick.“
Er nickt wieder und wendet sich zu seinem Computer, tippt mit zwei Fingern. Der Beamte kratzt sich am Kopf, hebt ihn dann unwillig.
„Ihrer Frau wurde bereits eine mit der Post zugeschickt, vor etwa zwei Wochen“, sagt er.
„Nein, das ist nicht wahr“, stottert Raiser ertappt, „sonst wäre ich doch nicht hier.“
„Ich habe es hier in meinen Daten“, unterbricht ihn der Beamte, tippt mit dem Finger auf den Bildschirm, den Raiser nicht einsehen kann, „Sie haben die Karte bereits zugeschickt bekommen. Sind sie vielleicht umgezogen und haben vergessen, das zu melden?“
„Nein, wir sind nicht umgezogen. Da hat sich nichts geändert. Meine Frau hat nur in diesem Jahr keine Lohnsteuerkarte bekommen und sie braucht natürlich eine. Das...“ Es ist so weit. Raiser verwickelt sich in seine hilflose Wut.
„Das ist nicht möglich. Falls Sie sie verloren haben und eine neue beantragen wollen, muss schon Ihre Frau selbst kommen. Ihnen darf ich keine aushändigen. Aber sehen Sie doch noch einmal zuhause nach, vielleicht haben Sie sie nur verlegt.“
„Ich sagte...“ Raiser stockt. Der Beamte sieht ihn stumm an. Raiser weiß es genau. Der Mann glaubt ihm nicht.
Raiser fällt auf, wie verwahrlost der Mann aussieht, wie ein Alkoholiker. Er ist nachlässig gekleidet, hat fettiges, zurückgekämmtes Haar, ist übernächtigt, grau, der Blick schwimmt trübe auf roten Rändern. Er reicht Raiser den Ausweis zurück, gähnt dabei unterdrückt in die Hand.
„Ich möchte gerne mit Ihrem Vorgesetzten reden.“ Ein schwacher Versuch. Der Beamte zuckt sofort mit den Schultern.
„Bitte schön. Zimmer 403, 4. Stock. Sie müssen sich bei der Sekretärin anmelden. Einen schönen Tag noch“, erwidert er kühl und wendet sich wieder seinem Bildschirm zu.
Raiser schüttelt den Kopf und tritt ein paar Schritte zurück. Aufmerksam beobachtet er den Mann, der keine Notiz mehr von ihm nimmt.
Der freut sich jetzt bestimmt auf seine Mittagspause. Ist auch keiner mehr in der Schalterhalle außer mir. Dann zählt er die Stunden bis zum Abend. Hat daheim eine Frau, ein paar Kinder. Muss sie ernähren, deshalb macht er diesen Scheiß hier. Fällt ihm schwer, jeden Morgen aufzustehen und zur Arbeit zu gehen, ich sehe es ihm an. Seine Erfüllung ist das nicht. Da war er einmal vor langer Zeit zu faul in der Schule, hat sich wegen irgendwelchen Träumereien nicht die Folgen bewusst gemacht. Die Büros und Ämter sind voll von diesen Menschen. Der Mann ist so alt wie ich. Zwanzig Jahre steht er schon an dem Schalter und er weiß genau: Die nächsten zwanzig macht er das gleiche.
Trotzdem ist da etwas, was den Beamten von Raiser entfernt. Es ist seine Stellung, die Macht, die hinter ihm steht und die er repräsentiert. Es ist eine gesichtslose, bösartige Macht, die Raiser zum Lügner stempelt.
Der Beamte sieht auf, bemerkt Raiser Blicke. Raiser fühlt sich ertappt, Blut schießt in sein Gesicht. Er ist ein Lügner. Unsicher wendet er sich ab, er weiß: Der Beamte sieht ihm hinterher. Und er hat diese Situation schon einmal erlebt.
Vor zwei Wochen stürzte Kerner an Raisers Tisch im Großraumbüro. Raiser hob ruhig den Blick vom PC: Er sah Kerner schwitzen, auf der Stirn standen Perlen.
„Aber Herr Kerner, was haben Sie denn?“ fragte er, obwohl er die Antwort wusste. Seit Tagen bereitete er sich auf diesen Moment vor.
„Raiser, die neue Lohnbuchhaltung ist abgestürzt.“
Kerners Stimme war rauh.
Jetzt muss ich einfach ruhig bleiben. Er darf nichts merken.
„Aber im Probelauf war doch alles einwandfrei,“ erwiderte Raiser. Er hoffte, der andere kaufte ihm seine Bestürzung ab. Aber Kerner war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um auf einen falschen Ton in der Stimme des anderen zu achten.
„Scheiß Probelauf! Wir haben drei Probeläufe gemacht. Das Programm müsste narrensicher sein. War es auch!“ Kerner sah ihn scharf an, jetzt sehr scharf, sehr genau.
„Da hat einer hier im Büro sabotiert. Einer von uns. Der hat sich in mein Zimmer geschlichen, ist über mein Passwort und meinem Terminal ins CICS und hat das Programm verändert. Das ist ja kein großes Problem, wenn man sich auskennt.“
Raiser richtete sich beteiligt auf. Hatte Kerner ihn schon im Verdacht? Von allen Tischen wanderten Blicke zu den beiden. Raiser konnte sie spüren, ohne sie zu sehen.
Keinen Fehler jetzt. Ungläubig reagieren.
„Aber wer kennt denn ihr Passwort?“
„Das bietet doch jemandem mit Erfahrung keine Schwierigkeiten. Außerdem sind es eh nur die ersten drei Buchstaben meines Namens.“
Die erste Falle, dachte Raiser, es sind die ersten fünf und es ist der Name seiner Tochter.
„So?“ fragte er harmlos. „Aber wer hatte denn die Möglichkeit? Ich meine, man kann doch nicht einfach in Ihr Büro spazieren und an Ihrem Terminal spielen!“
Kerner zuckte mit den Schultern, setzte sich ächzend zu Raiser. Er sah, dass er seinen Vorgesetzten geschafft hatte.
Er ist reif.
„Ich kann vor der Geschäftsführung nichts beweisen. Eine Sabotage nimmt mir niemand ab. Der Absturz bleibt an mir hängen.“
„Ist denn der Fehler so schlimm?“, mischte sich Hallard vom Nebentisch ungläubig ein. „Ich meine, können wir denn das nicht schnell beheben? Wir müssen doch die Backup-Kopie haben, die jeden Abend erstellt wird.“
Kerner sackte in sich zusammen.
„Das Backup ist durch die neue, falsche Version ersetzt worden. Wer immer das war, Hallard, er hat ganze Arbeit geleistet. Das Programm hat sich beim Anfahren selbst zerstört, indem es sich auf die 3812er Platte kopierte und dann wieder zurück.“
Hallard war sprachlos.
„Die sind doch nicht kompatibel, die 3812er ist...“ sprang Raiser ein und rief dann laut, als würde ihm alles jetzt erst bewusst:
„Mein Gott! Die ganze Buchhaltung ist nur noch Schrott?“
In Hallard kam wieder Leben.
„Aber der Administrator..., ich meine, der Operator...“
„Es ist passiert, Hallard“, erwiderte Kerner leise. Und während er das sagte, wurde er bleich. Raiser schien es, als würde jemand Kerners Kopf mich Milch füllen. Langsam, von Kragen her aufsteigend, wich die Farbe aus seinem Gesicht.
„Raiser, ich bin ruiniert“, sagte er erstaunlich ruhig, „der Alte setzt mich auf die Straße. Die da oben müssen doch glauben, dass ich das verhunzt habe. Die Arbeit von einem halben Jahr. Ich kann froh sein, wenn sie keinen Schadenersatz einfordern...“
Raiser unterdrückte nur mühsam ein triumphierendes Lächeln.
Hab ich dich. Endlich.
Eine Woche später saß Raiser auf Kerners Stuhl.
Raiser steht auf dem Bürgersteig vor dem Einwohnermeldeamt. Es ist kühl. In der Nacht fiel ein wenig Schnee. Längst hat er sich in dickflüssiges, braunes Wasser verwandelt, das wie Klebstoff auf dem Asphalt liegt.
Raiser weiß nicht, in welche Richtung er gehen soll. Er lässt sich von eiligen Menschen anrempeln.
Ein Fels in der Brandung bin ich. Allein mit mir.
Weder die Stöße der anderen, noch das Lärmen der Geschäftsstraße dringen bis zu ihm vor. Nur ein dünnes Pfeifen steht in seinem Ohr.
Raiser senkt den Kopf.
Ich bin erschöpft, denkt er und macht einen Schritt zur Seite. Er rutscht aus, fällt aber nicht.
Damit reiht er sich willig in den Strom ein, taucht in die Menge. Es ist schön, mit ihr zu gehen, dorthin, wohin alle gehen, sich treiben zu lassen, aufgehen. Anonym und ohne Selbst. Raisers aufgewühlter Geist wird eins mit der Menge, ist Menge und verliert seine Gedanken in dem Fluss aus Leibern, der ihn mitreißt.
Doch die Straße mündet bald, der Strom ergießt sich in einen großen Platz. Hier steht Raiser noch einmal still. Er kramt aus seinem Mantel einer Zigarette hervor. Erst als er sie in den Mund steckt, kommen ihm Zweifel.
Das ist die zweite in kurzer Zeit. Das habe ich nicht nötig.
Er schiebt die Zigarette zurück in die Tasche, dort zerkrümelt er sie langsam zwischen den Fingern.
Raiser sieht sich dabei um.
Jetzt hindert mich nichts mehr, heim zu gehen, Christine zu begegnen. Wie soll ich das erklären?
Er hat sie schließlich gedrängt, sich untersuchen zu lassen. Damit ging es los. Er will das Kind. Sein Schwager Henri hat drei. Ein potenter Mann. Alle sind sie gesund: Henri, seine gedrungene Frau, die lauten und rücksichtslosen Kinder. Sie tragen ihre Gesundheit wie einen Orden. Jeder muss sie bewundern. Nur sie allein wissen, wie man richtig lebt.
Ein einziges Mal hat Raiser seinen Schwager besiegt. Das war an Christines Geburtstag vor knapp einem Jahr. Es ging wie immer los: Henri erzählte, was für ein toller Hecht er sei und sein Lauftraining nur Vorteile habe, solange man nicht der Idee verfalle, es zu übertreiben oder irgendwelches Zeug zur Muskelbildung fresse.
„Du weißt nicht, was das für ein Körpergefühl ist. Da, fühl: Ich habe auch ohne Proteine meinen Oberarmumfang fast verdoppeln können. Das ist der Bizeps. Und hier der Trizeps, hier. Ich bin viel ausdauernder. Weißt schon.“ Henri zwinkerte seiner Frau zu, die verlegen lächelte. Raiser verzog nur einen Mundwinkel.
„Mein Körper verträgt jetzt viel mehr als früher. Ich habe seit zwei Jahren keine Erkältung. Und was Kopfschmerzen sind, weiß ich schon gar nicht mehr.“ Henri machte eine bedeutsame Pause, sah zu, wie sich Raiser ein Bier öffnete.
„Ich vertrage jetzt auch wesentlich mehr Alkohol als andere, ist mir aufgefallen. Ich kann jeden unter den Tisch saufen.“
„Bravo, du bist ein Held!“ Das kam von Christine, die mit einer Schüssel Kartoffelchips ins Wohnzimmer kam. Raiser sah dankbar zu ihr. Da schlug ihm sein Schwager mit der flachen Hand auf die Schulter.
„Wetten?“ fragte er. Raiser sah ihn erstaunt an.
„Na, wollen wir es nicht mal ausprobieren? Wir beide, gegeneinander?“ Henri nahm sich ebenfalls ein Bier, öffnete es, stellte es vor sich hin.
„Ich dachte, du hättest die Pubertät inzwischen hinter dir. Aber bei Männern dauert das ja etwas länger“, bemerkte Christine und Henris Frau lachte, „ich glaube auch nicht, dass Jochen diesen Unsinn mitmacht. Ja?“
Christine wand sich zu Raiser. Einen Moment war er verwirrt, sein Blick wanderte zwischen der Bierflasche und seiner Frau. Dann sah er zu Henri, der die muskulösen Arme verschränkt hatte und ihn überlegen anlächelte.
„Wenn du willst“, Raiser nahm seine Bierflasche in die Hand und leerte sie in wenigen Zügen. „Das war zum Warmwerden. Ich hole den Schnaps.“
Henri lachte, er klopfte sich dabei auf die Oberschenkel. Raiser bemerkte Christines missbilligende Augenbraue. Auch die Schwägerin schien nicht gerade begeistert. Aber jetzt konnten die beiden Männer keinen Rückzieher mehr machen.
Raiser denkt nicht gerne an diese Wette zurück. Beide soffen sich nahe an die Bewusstlosigkeit, aber er, Raiser, trug den Sieg davon. Sie tranken gleich viel Alkohol und waren auch im gleichen Stadium der Trunkenheit, aber ihm war nicht schlecht geworden. Henri kotzte den Gang voll.
Christine war zwei Wochen böse mit ihrem Mann und nahm nun seltsamerweise ihren Bruder in Schutz, betrachtete ihn als das Opfer.
Jemand rempelt Raiser an. Es ist eine junge, gutaussehende Frau, die ebenso gedankenverloren die Straße geht. Sie lächelt flüchtig und entschuldigend, dann ist sie weiter. Raiser sieht ihr hinterher.
(...wird fortgesetzt)
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[Diese Nachricht wurde von Klammer am 06. Oktober 2002 editiert.]
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