Vor der Kritik an diesem Text hier eine indirekte Erwiderung aus meinem Roman "Herbstzeitlos":
Das ging eine ganze Weile so. Sie waren alle beschäftigt, nahmen keine Notiz voneinander. Offensichtlich nicht. Mit einem Ruck nach vorn löste sich Edgar von seiner rindigen Lehne und ging zu Marcus hinüber. Marcus malte einen roten Schwan, dem Blut aus dem Halse troff. Der grüne Hintergrund war von einzelnen braunen Gebilden durchsetzt, die Edgar nicht im einzelnen auseinanderhalten konnten. Das mochte daran liegen, daß er väterlicherseits eine Rot-Grün-Schwäche geerbt hatte und deswegen sowieso mit der Malerei keine Bekanntschaft schließen mochte.
"Immer malst du Schwäne, Marcus", rief er schmollend, "wie wäre es mit etwas kleinerem Gefieder?" Marcus antwortete nicht. Das war seine Art, Unmut auszudrücken. Statt dessen lachte er verschämt. Edgar wendete sich ab und ging zu Johann-Jakob. "Sie sind neu hier, scheint mir", sprach er den geschaßten Schauspieler an, dessen Augen halbgeöffnet auf den beiden Neuankömmlingen verhaftet blieben. Allein dieser Blick faszinierte Edgar. Er zeigte lachend auf den Döser: "Schau Marcus, da liegt ein Stück stinkendes Menschenfleisch und läßt sich's wohl ergehen. Wie wäre es, wenn du dieses Bild festhieltest?"
Johann-Jakob setzte sich aufrecht, schaute Edgar bohrend doch gütig an und gab ihm die Flasche: "Hinter deinem Lachen herrscht ödes Dunkel. Du bist zerrissen wie ich, Bruder", sagte er halblaut.
'Das war das verwunderlichste und bestgeträumte Wort seit Jahren', dachte Edgar. Eine unbestimmte Scheu hinderte ihn, Johann-Jakob mit seinem Herzen anzunehmen. Statt den Fremden wegen der offenkundigen Verwandtschaft zu umarmen, wegen dieses Blickes, der dem Menschen Johann-Jakob Edgar als Menschen hätte anzeigen müssen, der Edgar die längst zugeschlagene Pforte freundschaftlicher Seelenverwandtschaft neu öffnen könnte, hielt der Wanderer der letzten Tage dumpf Abstand, scheute sich, diese zu überwinden, die er nur theoretisch, besser gesagt, durch dichterischen Eifer als Not wendende Kredenz des Menschseins predigte:
Ferne!
Sitzt in meiner Nähe
ähnlichem Tische,
grübelst mir gleich
über Unsinn Sinn
wortgewalt'ger Ehemaliger,
überkluger Gegenwärt'ger.
Deine sanfte Stimme
spricht zu mir ge-
heime Zeichen stiller Liebe,
diese still Distanz besiegte.
Derweil
befiehlt Abschied Abstand,
verlebten innig-endlich
lebendige Zeit,
nun folgen wir kindisch
entfohlenden Spuren.
Dein Schatten sendete Duft
vergoß Liebe aus unschuldigem Traum...
Einst die Weite flieht!
Dies hatte er geschrieben im Zeichen des Abschieds von einer jungen Dame, die er während seiner Studienzeit nur aus dem Bibliotheks-Lesesaal kannte, vom Sehen; nicht jedoch den Mut fand, sie anzusprechen. Er glaubte sie als Göttin! Vielleicht war es mehr als achtungsvolle Scheu; es muß Demut vor der eigenen Verwurzelung gewesen sein; etwas, woran er im Tiefsten seines Herzens glaubte, etwas, was ihm verbot, mit dieser Wunderschönen ein Abenteuer auch nur zu wollen. Sie saßen einander gegenüber, über Bücher gebeugt, über dies und das und übereinander nachdenkend, überdies überfordert und überaus übellaunig, vor allem im Sommer, wenn übermäßig produzierter Schweiß die Lüfte im sowieso stickigen Lesesaal überlagerte und freies Athmen unmöglich machte. Sie hielten die vagen Blicke für Ausblicke, emporgetaucht aus stickigem Morast wohlweislicher Druckerschwärze. Der Abstand blieb, sie nicht und er auch nicht. Sie kam nicht und er ging nicht hin.
P.S. Paulchen, schreib bitte auch zu anderer Getexte etwas! Und: Ein Ordner pro Tag ist hinreichend. Wir wollen doch hier keine Ordnerinflation.
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