Eine Kurzgeschichte hätte ich noch.
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Hannes springt.
Für einen kurzen Augenblick scheint sein Körper zu schweben, unbeweglich gegen den strahlenden Sommerhimmel. Eine Hand hochgereckt im Triumph, Knie und Füsse angewinkelt im Sprung, raumgreifend, dreidimensional, die linke Hand schützend zwischen den Beinen. Er schreit.
Dann fällt er vom Himmel.
Fünf nasse Köpfe beugen sich vor und sehen zu, wie das grellblaue Viereck zwischen ihren Füssen zerbirst zu strahlendem Weiss.
Ein Tropfen löst sich von Timos Haaren, er sieht ihn fallen, fallen, auf die zitternden Linien zu, die sich unter der Wasseroberfläche sammeln, bis Kacheln und Grund wieder deutlich zu erkennen sind. Unten schwimmt Hannes und winkt.
Sobald die Anspannung sich löst springen die Fünf in ihre Rollen zurück.
"Okay. Dein Turn, Annette." Sagt Sebastian, umfasst ihre Hüften im Spiel und drängt sie zum Rand.
Die ganze Zeit hat Annettes linke Hand sich nicht vom Geländer gelöst, und Sebastian weiss, dass sie nicht springen wird. Ihre Hände sind ein wenig zu weiss.
Dann stehen sie still. Annette streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht, feucht noch, und doch heller an den Rändern. Einzelne Haare lösen sich und fliegen im Wind: sie steht schon lange hier oben. Timo sieht, dass die Pfütze unter ihren braunen Füssen schon langsam am Trocknen ist.
Sebastians Hand liegt noch immer auf ihrer Hüfte.
"Du zuerst."
Woher das Ziehen in seinem Hals kommt, weiss Timo nicht. Die Linie ihrer Schulter, vielleicht. Die blonden Haare auf Bastians Hand auf Annettes Hüfte. Der Raum zwischen ihren Körpern.
Und denkt: nicht jetzt. Verdammte *******e, nicht jetzt. Er kann sehen, wie sein nackter Brustkorb sich zu schnell hebt und senkt. Die Hitze, die sich zwischen seinen Beinen sammelt, und in seinem Gesicht. Dass er immer so ******* rot werden muss, dass jeder es sieht.
Sebastian steht jetzt vorn, beugt sich vor, um zu sehen, ob das Wasser frei ist, lässt sich Zeit. Tänzelt.
Timo blickt zu Boden. Denkt an laufende Tropfen und sonst nichts. Es dauert ewig. Sein Schwanz spannt sich gegen den Stoff der Badehose und drückt sie nach vorn. Gut sichtbar nach vorn, neonrot sichtbar.
Er dreht sich um und hofft nur, dass niemand die Leiter hochkommt. Peinlich ist gar kein Ausdruck, und spring, Bastian, spring schon endlich denkt er. Mach schon.
Die anderen treten zurück, als Sebastian Anlauf nimmt und sich mit einem lauten Schrei nach vorne katapultiert. Das Beugen ihrer Köpfe ist eine Verneigung, ihr Atem für kurze Zeit synchron. Timo kann den Aufprall hören und wartet, dass ihre suchenden Augen sich jetzt auf ihn richten.
Weiss, dass Sebastian da unten noch eine Show abzieht, er wird sich totstellen und treiben lassen, er wird zum Boden tauchen und sie warten lassen, irgendwas fällt ihm schon ein, typisch Sebastian eben, und es wird ewig dauern, bis er weg ist. Und Timo steht vorne am Rand mit dem Ständer des Jahrhunderts und hört den Mädchen beim Kichern zu.
No way.
Okay, mir ist schlecht, wird er sagen, mir war einfach schlecht, weiss der Henker, wie alt die Würstchen waren oder das Cola war abgestanden, irgendwas fällt ihm schon ein, sie werden ihm glauben. Fünf Meter, kein Problem, er ist hier schon oft gesprungen.
"Timo?"
Selbst sein Nacken ist rot, als er sich abwendet und zur Treppe läuft.
Aber, *******e, es ist nicht sein Tag. Einen Ständer und die falsche Badehose an, die kleine vom letzten Jahr, weil er seine Boxershorts heute morgen nicht finden konnte und die Mutter sich geweigert hatte, ihm beim Suchen zu helfen, mit irgendwelchen klugen Sprüchen von wegen wenn Du Dein Zimmer aufgeräumt hättest, ja wenn er es hätte, aber das hilft ihm nichts, diese klugen Sprüche kann sie sich an die Wand nageln, nun stell Dich nicht so an, Timo, davon stirbt man nicht. Und ob man davon stirbt, sich zu Tode schämt weil man weiss, wie sie sich das Maul zerreissen werden, nachher, vor dem Eisstand, während sie diskutieren, ob es ein Solero sein soll oder Magnum Mandel vom letzten Geld, und der Hohn in ihren Augen wird kälter sein als jedes Eis.
An der Treppe kann er Gesines rote Haare sehen, nur wenige Meter unter ihm. Sie hebt den Kopf und sieht direkt in sein Gesicht.
Einen Augenblick lang überlegt er sich, ob er springen soll, zehn Schritte und aus, aber unten liegt Sebastian im Wasser und spielt Toter Mann.
Und er mit dieser ******* Beule in der Hose.
Ein Weg ist noch frei, und er ist zwei Stufen hoch, bevor er es sich überlegen kann.
Das Holz unter seinen Füssen ist trocken. Kein Mensch geht hier je hinauf. Zehn Meter. Er kann die Knöchel unter seiner Haut spüren, als die Hände um das Geländer greifen.
Der Wind bläst die Tropfen in schrägen Streifen über seine Haut. Es ist kälter hier oben, er ist jetzt über den Bäumen. Das Geschrei von unten dringt nur noch gedämpft hier herauf, weit weg von dem lärmenden Freibadtag am Boden.
Sein Mund ist trocken und schmeckt nach Chlor. Über ihm nichts als feine dunstige Wolken, durchzogen von ausfransenden Linien, Kondensstreifen, Sommer.
Einen Augenblick lang ist er überrascht, dass man von hier oben bis zum Volksparkstadion sehen kann. Dann wendet er sich dem kleinen blauen Becken tief unter seinen Füssen zu.
Ey, ich wollte doch nicht springen. Nur mal sehen, ob man von da oben das Volksparkstadion sehen kann. Hast Du gewusst, dass man von da oben das Volksparkstadion sehen kann? Von Springen hat keiner was gesagt. Ich bin doch nicht blöd. Mein Bruder hat mal einen gesehen, der hat sich den ganzen Bauch aufgerissen beim Kopfsprung. Kein *******. Aber der Blick von da oben ist echt geil.
Hannes sieht ihn zuerst, sein hoch gereckter Arm wirkt winzig, aber der Wind trägt seine helle Stimme herauf. Und die Köpfe der anderen folgen.
"Timo. Timooo!"
Es ist eiskalt hier oben. Er schlingt seine Arme um die dünne Brust sucht nach Wärme. Seine Zähne machen sich selbstständig, tanzen zwischen den blauen Lippen ihren eigenen Tanz. Tropfen laufen aus seinen Haaren.
Unten wird es still.
Nichts als der hohe Himmel über ihm und das Blau in der Tiefe. Er kennt die Gier in den Augen seiner Freunde: Timo springt. Ich fass' es nicht, schau; und er weiss, dass er sich ihrer Enttäuschung nicht stellen kann. Ihrer Enttäuschung nicht, und auch nicht ihrem Hohn.
Er kann die Linien sehen, die den Boden des Beckens in feine, zitternde Kästchen teilen. So klein. So weit weg.
Er tastet sich nach vorn, bis die Zehen über den Rand ragen. Bis fast nichts mehr fehlt zum Sprung.
In die Stimmen von unten mischt sich Ungeduld.
"Du bringst es eh? nicht!" Sebastian. Und er kann Gelächter hören.
Da hebt er den rechten Fuss, ganz langsam, behutsam, und während sein Gehirn in Todesangst schreit lässt er sich lautlos fallen in das brausende Blau.
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