Schon seit den Morgenstunden hatte mich eine seltsame Unruhe geplagt. Dann sah ich am späten Nachmittag die Wölfe auf der Anhöhe jenseits der Schlucht, die Schnauzen witternd zu unserem Dorf gerichtet. Das Rudel trabte nach Norden und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich lief an ein anderes Fenster und starrte auf die nördliche Paßstraße. Von dort würden sie kommen. Bald.
Mein erster Gedanke galt der Flucht. Wenn ich sofort aufbrechen würde, könnte ich über den Waldpfad den Fluß erreichen und mich in Sicherheit bringen. Auch kannte ich Schleichwege durchs Dorf, auf denen ich jetzt niemandem begegnen würde, der mich mit peinlichen Fragen aufhielte. Ich könnte sogar - eine raffinierte Idee! - auf den Terrassentisch eine Flasche Wein stellen und ein halbvolles Glas daneben, so daß meine Nachbarn von meiner Flucht nichts ahnen würden, bis ...
Aber nein! Ich verjagte diesen beschämenden Gedanken, Flucht kam nicht in Frage, nicht für mich. Noch immer starrte ich zum Paß hinauf. Ich mußte die anderen warnen. Zögernd verließ ich meinen Posten, um einen Blick auf die Dorfstraße zu werfen: Es war kein Mensch zu sehen. Ich schaute zum Nachbarhaus. Auf der Terrasse stand eine Flasche Wein auf dem Tisch, und ein halbvolles Glas.
Ich wandte mich wieder dem Paß zu, dort war aber noch immer keine Bewegung zu entdecken. Also wagte ich einen Blick zum Nachbarhaus auf der anderen Seite: Ein Fensterladen klapperte im Wind. Auf dem Terrassentisch eine Flasche Rotwein, die Katze rührte in dem Glas herum, in das wohl ein Insekt gefallen war.
Ich hätte mein altes Gewehr aus dem Schrank holen können, aber ich hatte es seit langen Jahren nicht mehr gepflegt und fast vergessen. Es war bestimmt schon längst unbrauchbar geworden. Also ging ich nur in die Küche und nahm das Brot aus dem Kasten. Damit ging ich auf die Terrasse, setzte mich an den Tisch, brach ein Stück Brot ab und aß davon. Der Westwind war kühl. Kein einziger Vogel sang. Ich hielt meine Augen wachsam auf den Paß gerichtet. Vielleicht würden die Wölfe erst in der Nacht kommen.
Es wird Abend. Ich sitze hier, esse von dem Brot und warte.
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