Dies ist ein weiterer Bestandteil von Abschied, kann aber auch als eigener Text gelesen werden. Fortsetzung folgt...
Meine erste Kindheitserinnerung setzt mit vier Jahren ein. Mein jüngerer Bruder und ich schichteten zwei dieser türkisgrün gepolsterten Eisenstühle aufeinander, kletterten auf den Turm und spielten immer in das schwarze kratzige Teppichmeer springen. Beim Aufprall schlugen wir uns die Knie auf. Unsere Mutter durfte nichts davon wissen. Deshalb bissen wir bei der Landung die Zähne aufeinander. Das Ergebnis war, daß ich eines Tages mit dem Kopf gegen die Heizung knallte. Diesmal brüllte ich. Ich hatte ein Loch im Kopf und mußte im Krankenhaus genäht werden. Das war der erste Schlag auf meinen Kopf. Weitere sollten noch folgen.
Seit diesem Erlebnis hatte ich immer den gleichen Traum. In einer Gewitternacht war er besonders deutlich. Ich war ganz tief unten. Es loderte in Flammen. Und dann trat ich dem Teufel gegenüber.
Meine Eltern, Thomas und ich wohnten damals in einer viel zu kleinen Dachwohnung, in der es im Sommer zu heiß wurde. Meine Mutter stolperte immer über die orangene Matchbox-Rennbahn, die mein Bruder und ich im Gang aufbauten. Sie fluchte jedesmal, wenn sie zu Fall kam und Thomas und ich heulten, wenn sie eines der Plastikteile aus der kunstvoll aufgebauten Looping-Rennbahn riß.
Als ich fünf war, dachte meine Mutter, sie müßte eine Ballerina aus mir machen. Meine Ballettlehrerin, Frau Baum, war eine dieser Frauen mit Stiernacken, Damenbart und kurzgeschorenen schwarz-weiß melierten Haaren. Genauso wie sie aussah, gab sie auch ihre Kommandos. Ich stand immer an der Stange mit meinen schwarzen Turnschläppchen mit Gummizug bekleidet und wagte nicht, in den Spiegel zu schauen, da meine Bewegungen zu plump waren, im Vergleich zu den anderen Mädchen. Ich beneidete meinen Bruder darum, daß er nicht diese Tortur über sich ergehen lassen mußte. Ganz katastrophal wurde es, wenn wir den Spagat übten. Davor fürchtete ich mich jedes Mal. Immer war ich diese Handbreit vom Boden entfernt. Soviel ich auch daheim übte, mir war es nie vergönnt mit meiner Scham, unten am Boden anzukommen. Einmal wurde Frau Baum richtig wütend deswegen, lehnte sich mit ihrem massigen Leib auf mich und versuchte mich hinunterzupressen. Ich jaulte auf. Trotzdem hat sie es nicht geschafft mich niederzudrücken. Dies war meine letzte Ballettstunde. Ich weigerte mich, noch einmal dorthin zu gehen. Damit war das Thema erledigt.
In der Zwischenzeit ging ich auch morgens in den Kindergarten, eine strenge Anstalt, geführt von Ordensschwestern mit schwarzen Kleidern und weißen Hütchen. Ich weiß nicht, was meine Eltern geritten hat, mir all dies anzutun. Wenn die Oberschwester mich mit ihren kalten blauen Augen ansah, wurde ich kleiner und kleiner. Einmal mußte ein Junge wegen mir in die Ecke stehen, da er mich beboxt hatte. Von da an wollte ich auch dort nicht mehr hingehen. Das Thema war dann auch schnell beendet, da wir umzogen in eine etwas größere Eigentumswohnung im Parterre mit kleinem Vorgarten.
Im Haus fanden wir ziemlich schnell Anschluß an eine Familie mit zwei älteren Jungen. Christian, damals 12 Jahre alt, war der schweigsame geheimnisvolle. Jörg dagegen, damals 9 Jahre alt, war derjenige, der immer sein Unwesen trieb und zu Streichen aufgelegt war. Da Christian sich immer absonderte, spielten Thomas und ich meistens mit Jörg. Ich wollte immer Geisterbahn spielen, aber Jörg vermasselte meistens, das, nach was ich fieberte, indem er sagte Mächen könnten da nicht mitspielen. Ich hatte mir schon ausgemalt, wie wir Tücher und Gespenster in den Keller hängten, aber meine Phantasien fanden nie ihren Auslauf. Jörg blockierte mich, wo er konnte. Meine Eltern hatten sich mit den Eltern von Jörg und Christian befreundet und beschlossen zusammen in den Urlaub nach Bibione an die Adria zu fahren. Es war jener Urlaub, in dem ich das Rülpsen auf Kommando übte. Jörg stachelte immer wieder, indem er mich aufs Korn nahm und sprach, ob ich es immer noch nicht könne. Wenn er weg war, übte ich, solange bis ich mich fast erbrach.
In den Dünen vor dem Strand fingen wir mit Netzen und Eimern bewaffnet Eidechsen. Ich schaute immer wieder Christian hinterher, wie er souverän in seinem Eimer mehrere Eidechsen anhäufte, während es mich erstaunte, wie schnell die Eidechsen waren und ihren Schwanz abwarfen. Oft fand sich nur dieses zappelnde Glied in meinem Netz und ich schaute auf diesen schillernden Rest einer Eidechse. Wenn ich dann auf den verstümmelten rasant das Weite suchenden Körper ohne Schwanz blickte, wurde mir immer etwas eigentümlich zumute.
Ein besonderes Abenteuer war es, Krebse zu fangen. Diese Urtiere flößten mir ziemlichen Respekt ein, da ich immer Angst hatte, einer könnte mich zwicken mit seiner großen Schere. Wir sammelten die Krebse in einem Eimer mit etwas Sand und Wasser. Dann schleppten wir sie zu dem Platz, wo unsere Eltern waren, um sie nach großem staunendem Beobachten am Abend, wenn wir den Strand verließen, wieder in die Freiheit des großen Meeres zu entlassen.
Einmal stießen wir in einem Watt, das in das Meer lief und den Strand in zwei Teile trennte zwischen Liegeplatz und Leuchtturm auf ein undefinierbares großes weißes Teil. Von der Weite sah es aus wie eine Plastiktüte. Jörg beharrte unbedingt auf eine Plastiktüte, während Christian geheimnisvoll die Finger an den Mund hob und beschwörerisch murmelte. Thomas und ich verstanden nicht, was er sagte. Wir wateten durch das oberschenkeltiefe Wasser mit seiner beachtlichen Strömung bis wir schließlich angelangten. Die Plasitktüte hatte Arme. Und dann hörten wir endlich, was Christian gemurmelt hatte. Wir sahen eine Qualle. Zu unser allem Bedauern war sie schon lange tot. Christian und Jörg trieben sie mit Stöcken noch ein Stück weiter zum Ufer hin, bis sich deren Interesse verlor. Aber ich und Thomas starrten noch eine Weile respektvoll auf das tote Wesen, wie es in dem Watt in der Strömung davonritt.
Eines Abends ließen uns unsere Eltern allein in der Ferienwohnung. Thomas und ich hatten uns schon in den einfachen Eisenbetten verkrochen, um schlafen zu gehen. Das Licht war aus und plötzlich ertönte ein Surren. Es war eine Invasion, die über uns herfiel. Thomas und ich taten kein Auge zu. Ich klatschte immer in die Hände, wenn das Surren näher kam, aber es hörte nicht auf. Schließlich suchte ich den Lichtschalter. Thomas heulte schon und dann kamen mir auch die Tränen. So fanden uns unsere Eltern. Sie fielen lärmend quietschvergnügt in die Wohnung ein. Wahrscheinlich hatten sie einige Schnäpse genossen.
Am nächsten Morgen übte ich erneut das Rülpsen. Und siehe da, ich konnte es. Jörg klopfte mir auf die Schultern. Von da an war ich sein Kumpel. Christian habe ich nie erreicht.
Die Heimfahrt war wieder ein besonderes Vergnügen. Ich fragte meine Eltern, ob es jetzt wieder Frühstück bei der Nacht gebe. Mein Bruder und ich würgten wieder, um die kleinen orangeroten Pillen gegen die Reiseübelkeit herunterzubekommen. Ich weigerte mich schließlich nach unendlichen Versuchen. Thomas hatte alle genommen. Trotzdem kotzte er wieder auf der Hinfahrt das Auto voll. Dies gab wieder Anlaß zu witzeln. Meine Eltern schworen wieder alte Geschehnisse hervor. Ich erinnere mich noch an den breit lachenden Mund meiner Mutter, als mein Vater erzählte, wie wir einst Thomas aus dem Auto in einer Kurve verloren hatten. Ich hatte neben mich geschaut und plötzlich war er weg. Ich hatte meinem Vater zugerufen, daß Thomas nicht mehr da sei. Er hatte angehalten und zurückgeschaut. Thomas saß auf der Straße und weinte.
Überhaupt immer war es Thomas, der in das Blickfeld meiner Eltern geriet. Er fiel von den Schienen, rammte sich eine Schraube in die Wade und meine Eltern liefen herbei. Er brach sich seinen kleinen Zeh, indem er an einer Wand entlang schrabbte, meine Eltern waren da. Es war fast unerträglich, daß ein Wesen, das mir so gleich sah, immer die Aufmerksamkeit der Erwachsenen besaß. Unsere Stimmen am Telefon waren fast nicht unterscheidbar. Und wenn uns fremde Leute trafen, fielen sie über uns her und raunten, ob wir nicht Zwillinge wären. Einmal beim Skifahren ging er mir und meiner Freundin auf der Piste verloren. An jenem Tag herrschten 20° Minus. Meine Eltern fanden ihn auf einer Hütte mit halb erfrorenen Händen, laut heulend. Meine Eltern machten mir Vorhaltungen deswegen. "Wie konntest du nur deinen Bruder vergessen?"
Ich vergaß ihn beim Gummihüpfen. Ich konnte alle möglichen Akrobatiken. Fußhoch. Kniehoch. Oberschenkelhoch. Ich machte sie alle nieder. Ich kannte alle Formen. Ich trieb die Kunst soweit, daß niemand mehr mit mir spielen wollte, bis ich mich an meinen Bruder erinnerte. Ich band den Gummi an einen Pflock und streifte Thomas den Gummi über. Er hielt es für eine Vergewaltigung, als Junge Gummi hüpfen zu müssen. Ich erpresste ihn damit, daß ich ihm sagte, ich würde ihn nicht mehr auf die Geburtstagspartys meiner Freundinnen mitnehmen. Von da an stand er geduldig auf der Stelle, die ich ihm zugewiesen hatte, während ich in immer neuere Dimensionen hüpfte.
Wenn ich mit meiner Freundin mit Barbiepuppen spielte, tat ich das mit dem einzigen Ziel, sie nackt zu sehen. Ich strich dann immer über die harte Plastikbrust der Puppe und spürte, wie ich unten ganz feucht wurde. Dabei trieb es mir das Blut ins Gesicht. Mir war irgendwie klar, daß ich etwas verbotenes tat, aber das Gefühl, die Puppe ganz nackt zu sehen, trieb mich immer in Hochstimmung.
Meine Freundin hatte einen Wellensittich. Er saß immer brav im Käfig und krächzte einige Wörter. Ich bearbeitete meine Mutter solange, bis sie mir auch so ein Tier kaufte. Er war wunderschön. Sein Gefieder changierte zwischen gelb und grün. Als wir ihn bekamen, saß er still und verschüchtert in seinem Käfig. Wenn wir das Türchen öffnete, wollte er gar nicht herauskommen. Ich habe ihn Butzi getauft. Als wir den Vogel soweit hatten, daß er aus der Tür kam, wollte er gar nicht mehr in den Käfig zurück. Ziemlich schnell entwickelte er sich zum Tyrann der ganzen Familie. Wenn ich von der Schule heimkam, hatte ihn meine Mutter mit samt dem Käfig in meine Zimmer gestellt. Er wollte hinaus und machte einen ohrenbetäubenden Lärm. Da ich Hausaufgaben zu erledigen hatte, stellte ich ihn dann immer vor meine Tür. Wenn Butzi frei in der Wohnung herumflog, konnte er es sich nicht nehmen lassen mit seinem spitzen Schnabel an allem, was ihm in den Weg kam, herumzunagen. Er zerfledderte die Fernsehzeitung, die unter dem Wohnzimmertisch lag und scheute sich nicht davor, das neu erstandene Klavier anzunagen. Überall hinterließ er seine Häufchen und meine Mutter kam gar nicht mehr mit dem Putzen hinterher. Irgendwie war mir das Vieh von Anfang an verhaßt. Erst deutlich bekam ich diesen Groll zu spüren, als mein Vater und der Vogel sich ineinander verliebten. Dort wo das Telefon stand, befand sich eine Stange. An jene hängte sich Butzi, so daß er mit dem Bauch nach oben pendelte. Mein Vater nahm dann seinen Zeigefinger und Butzi ließ sich am Bauch kraulen, während er wollüstige Geräusche aussandte. Wenn sich der Vogel auf meine Schulter setzte, biß er mich regelmäßig in das Ohrläppchen. Das Vieh haßte mich und ich haßte es. Das Thema sollte sich auch ziemlich schnell erledigen. Zu Weihnachten bekam Thomas eine Dampfmaschine geschenkt. Butzi hüpfte ganz aufgeregt um dieses Ding herum, das so viel Lärm machte und Dampf aussendete. Er ist dann am zweiten Weihnachtsfeiertag gestorben, da er zu viel von dem Esbit eingeatmet hatte. Mein Vater war in Trauer, da er seinen Gefährten verloren hatte. Ich dagegen tat nur so, als ob es mir leid tat. Versuchte zu schmollen, aber es gelang mir nicht. Von jenem Moment an habe ich mich in Katzen verliebt. Jene haßten schließlich auch die Vögel.
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