1. Geschichte
Prolog
Die rechte Hand des alten Mannes rutscht vorsichtig und langsam den abgegriffenen Handlauf der Treppe empor. Sein massiger Körper schwimmt hinterher, keucht sich geduldig eine Stufe nach der anderen in die Höhe. Bald schon, er hat noch nicht einmal ein Viertel seines Aufstiegs hinter sich, muss er an einem Absatz pausieren und hektisch um Atem ringen. Er lässt eine Gruppe Jugendlicher an sich vorbei, die wie er den Turm hinaufsteigt. Er nickt ihnen freundlich zu.
'Wie meine Enkel', denkt er, 'laut, roh und rücksichtslos jung. Ein schönes Alter.'
Sein Blick gleitet über den Rauhputz der Wand, auf dem eine Vielzahl von Botschaften geschmiert stehen. Manche stammen aus dem vorigen Jahrhundert. Hätte der Alte jetzt einen Stift bei sich, er hätte sich ebenfalls verewigt.
"10.04. - Karl", hätte er geschrieben.
Endlich beruhigt sich der Puls des fetten alten Mannes wieder und er macht sich erneut an seinen Aufstieg die enge Wendeltreppe empor. Karl braucht noch fünf Rastpausen und sie werden jedesmal länger, bis er zu Atem kommt.
Endlich erreicht er die Tür, die ihn auf die Turmspitze führt.
Er tritt hinaus und sieht sich auf der kleinen Plattform um. Karl ist allein; die Jugendlichen sind ihm schon bei seiner dritten Rast von oben entgegengekommen, haben sich lachend an ihm vorbeigedrängt.
Schleppend tritt Karl an den Rand, presst seinen Bauch gegen die niedrige Ummauerung und sieht nach unten. Der Anblick gefällt ihm: Die Stadt liegt so winzig da unten. Natürlich vergleicht er sie sofort mit einem geschäftigen Ameisenhaufen. Er kann sich nicht vorstellen, dass dort unten so große Menschen wie er leben. Sie müssten in den engen Gassen und Plätzen ersticken.
Weit hinten unter dem waldigen Horizont, dort, am westlichen Randbezirk sollte er eigentlich sein Häuschen finden, aber Karl vermag es zuerst nicht zu entdecken. Dabei hätte er es sehen müssen, denn wenn er aus seinem Küchenfenster blickt, kann er in der Ferne den alten Stadtturm erkennen, auf dem er jetzt steht. Endlich sieht er seinen schmalen Garten. Und dahinter, dieser kleine weiße Karton, das muss dann doch wohl sein Häuschen sein.
'Ich hätte ein Fernglas mitnehmen sollen', denkt Karl. Dann hätte er vielleicht sogar seine Frau erkennen können, die in der Küche das Abendessen vorbereitet. Es gibt gefüllte Tomaten. Die isst er gern.
Und dort, sehr nah, aber leider durch die Kamine der Maschinenfabrik verdeckt, wohnt Karls Tochter mit ihrem Mann und den Enkeln. Morgen, wie an jedem Samstag, ist er dort eingeladen.
Es ist recht kühl hier oben auf der Turmspitze. Vom Horizont wischen giftige Wolken heran. Karl runzelt die Stirn. Nass werden will er nicht. Gleichzeitig wird ihm klar, wie absurd dieser Gedanke ist. Er schüttelt bedächtig den Kopf über seiner Dummheit.
Mühsam zieht er sich hoch auf die Begrenzungsmauer. Es gelingt ihm nur, weil hier ein paar der Ziegelsteine abgebröckelt sind und er mit seinen Füßen halt findet. An welchen Kleinigkeiten manchmal die Dinge hängen, denkt er. Wären die kaputten Stellen inzwischen mit Zement ausgebessert, hätte er jetzt unverrichteter Dinge umkehren müssen.
Karl lässt die Beine über dem Abgrund baumeln. Er ist schwindelfrei und genießt den nun unverstellten Blick hinab in die Altstadt. Hier saß er schon als Kind gerne, bis ihn irgendein Erwachsener erschrocken von der Mauer zerrte; damals kurz vor dem Krieg, als der Turm noch Teil einer schönen Altstadt und nicht trotziges Überbleibsel einer zerstörerischen Bombennacht war. Später traute er sich das nicht mehr, war auch nicht mehr auf den Turm gestiegen. Er war da, immer in seinem Blick, das genügte Karl. Heute aber ist der Tag, endlich wieder empor zu steigen, denn wenn sich das Alter noch stärker bei ihm bemerkbar macht, wird er überhaupt nicht mehr hoch können.
Und jetzt sitzt Karl auf der Mauer und spuckt wie früher hinab.
'Vielleicht treffe ich jemanden', denkt er. 'Er wird aufsehen. Alle schauen nach oben, wenn sie ein Tropfen trifft, auch bei Sonnenschein oder wenn sie sich in einem Zimmer befinden. Er wird aufsehen und erschrecken. Vielleicht ruft er die Polizei oder die Feuerwehr oder den Krankenwagen oder alle zusammen.'
Der Alte sieht auf die Uhr. Nach dem Abendessen ist er mit seinem Kameraden Mertl verabredet, im Wiesenwirt, dort neben der Kirche, wie an jedem Freitag. Sie werden ein paar Biere trinken, über Politik und den Krieg reden. Vielleicht kommt auch Klose, wenn ihn seine Frau gehen lässt.
"Meine Freunde", sagt der alte Mann laut, "meine Frau. Meine Tochter, meine Enkel. Ich bin geborgen, ich bin gesund und glücklich. Alles ist gut."
Dann stößt sich Karl lachend mit beiden Beinen von dem Mäuerchen ab. Er lacht, weil er einen Euro Turmbesteigungsgebühr bezahlt hat.
2. Geschichte
Vision
Behäbig. Er schließt die Haustür auf. Es knirscht. Das Schloss wehrt sich. Vorahnung. Etwas ähnliches. Es streift ihn kalt. Widerwillig. Er öffnet die Tür.
Es fällt schwer. Langsam. Die Unterseite der Tür scharrt über einen dicken Teppich. Drinnen. Dort wartet Finsternis, saugende Schwärze. Verwaschene Gefahr.
Er steht im Gang. Die Tür schließt sich. Samtweich. Für Augenblicke. Er steht. Er lauscht. In der Dunkelheit. Ein Geheimnis vielleicht? Die Wohnung, er weiß, sie ist leer. Kein Geräusch. Nicht der Schlag seines Herzens, nicht einmal sein Atmen. Nichts.
Dennoch spürt er etwas. Es ist anders, er möchte es sagen: Es ist falsch.
Er sucht mit der Linken. Da ist ein Schalter. Die Lampe soll seine Furcht besiegen. Hell und warm.
Treibe die Furcht aus diesem Raum in den nächsten. Lampe.
Er betätigt den Schalter. Keine Wärme. Kein Licht. Die Nacht fällt von der Decke. Matte Schwärze. Sie geifert.
Die Glühbirne! Natürlich, sagt er sich. Alles geht kaputt. Immer, will er sich einreden. Es gelingt ihm nicht.
Er weiß. Dort, im Aschewirbel der Wohnung wartet etwas. Kein Licht. Alles ist verdunkelt. Herrscht wieder Krieg? Zwei Schritte, er ist im Wohnzimmer. Schlägt die Tür hinter sich zu. Lehnt sich gegen sie. Schutz.
Er will laut schreien. Das hilft oft.
Ein Seufzen. Er selbst hört es kaum. Es wispert. Drängend. Es ist alles, was ihm vom Schrei blieb.
Licht. Auch hier: Ein Schalter. Seine Berührung ist Trost. Nun muss es sich entscheiden. Ungestüm. Er schaltet. War alles eine Einbildung?
Der Schalter ist ein Potemkinsches Dorf. Nichts geschieht.
Er hat das gewusst.
Es ist vorbei.
Da. Ein helles, rotes Leuchten. Es strahlt von außen durch das Fenster. Eine Gestalt zeichnet sich ab. Scharf, wie ausgeschnitten. Sie badet in dem roten Licht. Sie lacht.
Lacht sie? Oder nein. Sie redet zornig. Es klingt nur in seinen Ohren. Aber ein Mantel umfließt die Gestalt. Er scheint einen eigenen Willen zu haben. Wie ein lebendes Tier.
In diesem Augenblick fühlt er mich empor gehoben, hinauf. Er will noch immer schreien. Alles kreist jetzt. Schneller. Er stürzt. Hinauf? Hinab? Er weiß es nicht.
Doch am Ende des runden Schlundes, dem Malstrom seiner Einbildung:
Da steht sie. Da steht die Gestalt.
Er hat das gewusst. Und jetzt versteht er auch ein Wort, das diese Gestalt flüstert:
"Verräter."
Dann steht er wieder im Wohnzimmer. Das war ein Fehler. Dieser Kerl. Jetzt entkommt er ihm doch. Er wendet sich um. Läuft los. Kracht gegen die geschlossene Tür. Er selbst. Narr! Er selbst hat sie geschlossen. Reißt sie auf, durch den Korridor, Haustür, zwei Stufen, ins Freie. Nach rechts führt die Flucht. Links, er erinnert sich, links ist eine Sackgasse. Hier im Freien ist es heller. Der Schatten der Bäume zeichnet ein scharfes Muster auf das Kopfsteinpflaster. Auch hier. Rotes Leuchten am Himmel. Er sieht kurz nach oben. Lichtstreifen kreuzen durch geronnene Wolken, weben ein Netz. Eine Sirene schreit. Es fallen kreischende Tropfen durch das Netz, erhellen pulsierend den Himmel. Deutlich sieht er den Stadtturm. Er wirkt wie gemeißelt ihm Schein des Brandes. Es ist Krieg.
In diesem Augenblick hört er ein Atmen hinter sich. Er spürt es. Es ist ein Hauch in seinem Nacken. Halb wendet er sich. Sein Haus. Es brennt. Aus dem Keller hört er Hilferufe. Eine Gestalt steht vor dem Haus. Ein Mantel wird vom Feuersturm emporgehoben. Greift nach ihm.
Er beginnt zu rennen. Aber seine Fettleibigkeit behindert ihn. Sofort gerät er außer Atem. Vor ihm taucht eine Mauer auf. Er hat sich geirrt. Nicht links, rechts. Die Sackgasse ist rechts.
Es ist vorbei.
Aber Karl erwacht.
'Was für ein Traum', denkt er. Seine Hand tastet zur Nachttischlampe. Er schaltet. Keine Wärme. Kein Licht.
"Verräter", flüstert eine Stimme. Da weiß er, dass er verloren hat.
3. Geschichte
Ich und ich
"Einen Euro kostet das?" Karl Weber hob erstaunt den Blick von seinem Geldbeutel. Vielleicht hatte er sich ja verhört. Das kam häufig vor, seit er im vorigen Jahr in der Badewanne gestürzt und mit der Wange und dem linken Ohr hart auf das Porzellan des Wannenrands gefallen war. Trotz des aufgeplatzten Blutergusses, der pochenden, zermürbenden Schmerzen und der noch zermürbenderen Ermahnungen seiner Frau war er anschließend nicht zum Doktor gegangen. Er fand, solange er nicht zum Arzt ging, war er gesund. Wer wusste schon, was der alles entdecken würde. Und hatte Karl nicht rechtbehalten? Die Schmerzen verschwanden nach einer Weile, ließen sich nur mehr an warmen Sommertagen erahnen, und von der Wunde blieb nur eine kleine Narbe, sein Schmiss, wie er sie liebevoll bezeichnete. Und, ja, er hörte etwas schlechter. Aber mit Siebzig durfte man das. Es war sogar manchmal von Vorteil in dieser lauten, lärmenden Welt.
"Finden Sie das nicht etwas teuer?" fragte er.
Zweifelnd blickte Karl durch die fettige Glasscheibe in das Gesicht seines Gegenübers. Für einen Moment wurde ihm schwindlig, denn er hatte das verwirrende Gefühl, in einen Spiegel zu sehen. Der Rentner in dem Kassenhäuschen hätte sein Zwillingsbruder sein können. Es war ein fetter, aufgeschwemmter alter Mann mit schütteren, weißblonden Haaren. Er passte kaum hinter den niedrigen Tresen, auf dem Ansichtskarten des Turms, eine Billettrolle, eine Zigarrenkiste mit Wechselgeld und ein aufgeklapptes Buch mit dem Einband nach oben lagen. Und tatsächlich hob der Rentner seine Hand zum Ohr.
"Bitte?" fragte er schwerhörig. Karl bemerkte, dass dem Mann zwei Finger an der Hand fehlten. Sie wirkte wie eine Klaue, die er an dem abstehenden Ohr einhakte. Der irritierende Eindruck, mit sich selbst zu reden, verschwand so schnell, wie er gekommen war, kehrte aber sofort zurück, als der Mann sein Kinn nach vorn rückte und auf der Unterlippe zu kauen begann. Karl reagierte auf die nämliche Weise, wenn er sich konzentrierte; seine Tochter hatte ihn erst letzten Samstag auf diese Marotte aufmerksam gemacht.
Eilig winkte Karl ab und kramte in seinem Geldbeutel die verlangte Münze hervor. Gleichzeitig schielte er auf das Buch vor ihm, denn ihn interessierte, mit welcher Lektüre sich sein Doppelgänger die Zeit vertrieb, während er auf die seltenen Besucher dieses Turmes wartete. Leider spiegelte das Glas der Trennwand so, dass er die kleinen, zudem auf dem Kopf stehenden Buchstaben des Titels nicht entziffern konnte.
Karl schob das Geldstück durch die schmale Öffnung zwischen Tresen und Glas und erhielt im Gegenzug eine rote Eintrittskarte, auf der noch immer "Alter Wehrturm - 1 DM" stand. Er öffnete bereits den Mund, um sich von neuem über die Inflation zu beschweren, die die neue Währung gebracht hatte, sah aber rechtzeitig die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens an. Wenn, wie er stark vermutete, dieser alte Mann ihm nicht nur äußerlich, sondern auch im Gemüt ähnelte, würde er ein gleichgültiges Achselzucken ernten.
Karl nahm seine Eintrittskarte, sie fühlte sich wie Toilettenpapier an, schob sie in seine Jackentasche und wand sich zu der Treppe, die den Turm hinaufführte. Es war ein schmaler Aufstieg, der nach wenigen Stufen in eine Kehre tauchte. Der muffige, kalkige Geruch des alten Gemäuers hieß ihn willkommen.
Einen letzten Blick warf Karl zurück. Der Mann im Kassenhaus hatte bereits wieder sein Buch in der Hand, hielt es so nah an sein Gesicht, als wolle er die Buchstaben mit seiner Zungenspitze, die zwischen seinen fettigen Lippen hervorlugte, ablecken.
Es war wirklich erstaunlich, wie sehr dieser dicke, alte Mann ihm ähnelte. Sicherlich war der Turmwärter einige Jahre älter als er, aber auch Karl ertappte sich beim Lesen dabei, wie er seine Zunge zwischen die Lippen nahm. Karl seufzte, konnte sich aber trotzdem nicht dazu durchringen, mit seinem mühsamen Aufstieg zu beginnen. In diesem Augenblick bemerkte der Rentner, dass der Besucher noch nicht weiter gegangen war. Er lugte neugierig hinter seinem Buch hervor. Zwei wässrige Blicke trafen sich. 'Jetzt betrachtet er mich zum ersten Mal interessiert', dachte Karl, 'nimmt mich als Person und nicht als Nummer wahr. Ich erinnere ihn an jemanden. Er weiß nur nicht, an wen. Daran wird er sich später erinnern.'
Das war ein Gedanke, der Karl gefiel.
"Kann ich noch etwas für Sie tun?" fragte der Mann. Auch sein Dialekt war der von Karl. Beide waren sie in dieser nicht allzu großen Stadt aufgewachsen, nebeneinander her alt geworden und erst jetzt begegneten sie sich, sahen sich, erkannten einander.
"Nichts..." erwiderte Karl gedehnt und zwinkerte dem anderen zu. Mochte der ihn für absonderlich halten, es spielte keine Rolle. Karl hatte sich selbst gefunden.
Und morgen würde er noch immer hier sitzen und kurzsichtig in sein Buch starren. Jetzt erkannte Karl auch den Titel des Romans. Es waren die "Elixiere des Teufels" von E. T. A. Hoffmann, sein Lieblingsbuch.
Zufrieden machte sich Karl an seinen Aufstieg.
[Diese Nachricht wurde von Klammer am 23. Februar 2003 editiert.]
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