Zur Einstimmung ein kleiner Text, den ich auch für einen (noch nicht vollendeten) Roman verwendet habe:
Buchenwald
Buchenwald bestand aus drei Abteilungen: dem "großen" Lager mit Häftlingen, die schon länger im Lager waren, dem "kleinen" Lager, in dem Gefangene in Quarantäne gehalten wurden, und dem "Zeltlager" für polnische Gefangene, die nach der deutschen Invasion Polens 1939 dorthin deportiert worden waren. Neben diesen drei Abteilungen gab es den Verwaltungsblock, Baracken und Lagerbetriebe. Das Hauptlager befand sich auf dem nördlichen Abhang des Ettersbergs, acht Kilometer nördlich von Weimar in Thüringen. Ab 1943, nachdem die Rüstungsfabriken in der Nachbarschaft des Lagers fertiggestellt worden waren, stieg die Zahl der Häftlinge beständig. Im Februar 1945 waren es schließlich über 86.000. In den acht Jahren seines Bestehens, von Juli 1937 bis März 1945, durchliefen insgesamt 240.000 Häftlinge aus 30 Ländern Buchenwald und seine Nebenlager; davon wurden 43.000 ermordet oder kamen auf andere Weise ums Leben.
Die jüdischen Häftlinge wurden besonders grausam behandelt, sie arbeiteten 14 bis 18 Stunden am Tag (gewöhnlich in dem berüchtigten Steinbruch von Buchenwald) unter überaus schwierigen Bedingungen. Gemäß einem Befehl vom 17. Oktober 1942, alle jüdischen Gefangenen im Reich nach Ausschwitz zu überführen, wurden die Juden aus Buchenwald in dieses Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Ab dem 18. Januar 1945, als Auschwitz und andere Lager im Osten "evakuiert" wurden, kamen tausende jüdischer Gefangener nach Buchenwald zurück. Zu den Evakuierten aus Auschwitz gehörten mehrere hundert Kinder und Jugendliche. Für sie wurde im Zeltlager eine besondere Baracke eingerichtet, die als "Kinderblock 66" bekannt wurde. In diesem Block lebten über 6oo Kinder und Jugendliche, von denen die meisten überlebten. Den jüdischen Gefangenen wurden Privilegien und Ausnahmeregelungen anderer Insassen vorenthalten, zudem wurden sie für medizinische Experimente missbraucht.
Am 6. April 1945 begann die SS, die jüdischen Gefangenen zu evakuieren. Am folgenden Tag wurden Tausende Gefangene verschiedener Nationalität aus dem Hauptlager und den Nebenlagern abtransportiert. Von den 28.000 Gefangenen aus dem Hauptlager wurden dabei 7.000 bis 8.000 entweder ermordet oder starben auf andere Weise im Verlauf der Evakuierung. Die Gesamtzahl der Gefangenen aus den Nebenlagern und dem Hauptlager, die während der Räumung Buchenwalds ums Leben kamen, wird auf 25.000 geschätzt. In den letzten Tagen des Bestehens des Lagers Buchenwald sabotierten Widerstandsmitglieder, die in der internen Verwaltung Schlüsselpositionen innehatten, SS-Befehle zur Evakuierung, indem sie die Ausführung verzögerten. Die Nationalsozialisten konnten deshalb die Räumung des Lagers nicht zu Ende bringen.
Am 11. April 1945 waren die meisten SS-Männer bereits aus dem Lager geflohen. Der Untergrund wartete nicht auf die heranrückenden amerikanischen Streitkräfte, sondern übernahm selbst die Kontrolle, zusammen mit bewaffneten Gruppen von Gefangenen. Dabei wurden mehrere Dutzend SS-Männer gefangengenommen, die im Lager zurückgeblieben waren. An jenem Tag, dem 11. April 1945, wurden etwa 21.000 Gefangene in Buchenwald befreit, darunter 4.000 Juden, davon etwa 1.000 Kinder und Jugendliche.
Sicher gab es auch in Buchenwald Inhaftierte, die sich aus purem Überlebenswillen über jegliche Moralvorstellungen hinwegsetzten, indem sie das Leben anderer gefährdeten um ihr eigenes zu retten. Mir ist zumindest ein Fall bekannt (nicht aus Buchenwald), bei dem ein Inhaftierter seine Mütze verloren hatte, was für ihn das Todesurteil bedeutet hätte. Um sein eigenes Leben zu retten stahl er einem Mitgefangenen dessen Mütze. Er überlebte, während der Bestohlene erschossen wurde.
Ich stelle mir nun bereits seit geraumer Zeit - nicht nur in obigem Zusammenhang - die Frage, ob es eine allgemeingültige, unserer Existenz inhärente Moral gibt, nach der sich alle denkenden Menschen richten müssen. Ist es nicht vielmehr so, daß Moralvorstellungen von "der Gesellschaft" definiert werden und somit dem Wandel der Zeit und der Gesellschaft unterliegen? Oder noch extremer: ist es nicht so, daß sich jeder Mensch seine eigene, für ihn gültige Moral definieren und auch danach handeln kann, eine Moral, die durchaus von der allgemein gültigen abweichen mag - sofern er das Recht auf freie "Moralbildung" und "-ausübung" des anderen nicht verletzt?
Beispielsweise gebietet die Moral unserer Gesellschaft, daß wir monogam und möglichst auch treu leben sollen. Andere Gemeinschaften (Mormonen, Naturvölker) leben dagegen durchaus nicht monogam --eine allgemeingültige "Natur-Moral" scheint zumindest in diesem Punkt nicht zu existieren.
Meinungen? Gibt es eine universell gültige Moral? Falls ja - wie sieht sie aus, was beinhaltet sie?
Ein paar Zitate zur Erbauung und Diskussion(?):
Ich verlange nicht, daß der Kleinbürger seine Moral aufgibt, ich verlange nur, daß er mir meine läßt.
(Jose Ortega y Gasset, span. Kulturphil., Soziologe u. Schriftst., 1883-1955)
Die Moral ist immer die letzte Zuflucht der Leute, welche die Schönheit nicht begreifen.
(Oscar Wilde, engl. Schriftsteller, 1854-1900)
Unsere Instinkte wirken nach zwei Richtungen - die eine strebt die Förderung unseres eigenen Lebens und das unserer Nachkommen an, die andere will das Dasein vermeintlicher Konkurrenten beeinträchtigen. Die erste umfaßt Lebensfreude, Liebe und Kunst, die, psychologisch gesehen, in der Liebe wurzelt. Zur zweiten gehören Wetteifer, Patriotismus und Krieg. Die herkömmliche Moral tut alles, um die erste zu unterdrücken und die zweite zu fördern.
(Bertrand Russell, Anleitungen zur Skepsis)
Die Moral ist für Sklaven geschaffen, für Wesen ohne Geist.
(Henry Miller, amerik. Schriftst., 1891-1980, Von der Unmoral der Moral)
Moral ist, wenn man so lebt, daß es gar keinen Spaß macht, so zu leben.
(Edith Piaf, franz. Chansonsängerin, 1915-1963)
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