Nina Hagens nackter Fuß hätte den Sand von Hiddensee nicht böser stampfen können als die Sohlen der Schuhe, in denen Thomas Kroll aus seinem Haus zum Auto floh.
„Verdammt! Dieser Ausflug fängt ja wirklich gut an! Und dann lauert auch noch die Sondersche, die alte Klatschtante, auf mich!“
Tommy fluchte, als er seine schnüffelnasige Nachbarin beim Spähen erwischte, obwohl sie sich im toten Winkel ihres Holunderstrauches befand. Diese Kuh glotzte blöde auf seinen Parkplatz. Eigentlich wollte er seine Hand liebend gern vom kochend heißen Dach seines Autos reißen. Mannhaft unterdrückte er den Reflex. Ganz langsam ließ er die fast gare Hand über das Bratdach gleiten. Er überwand sich, keinen Schmerzensschrei in den blauen Himmel über Berlin zu jodeln. Während er die Tür der japanischen Reisschüssel öffnete, lag seine Hand immer noch auf dem brodelnden Blech des Wagens. Die Frühlingssonne und er hatten ganze Arbeit geleistet. Mit einer Drehung, die nur er für sportlich hielt, schob Thomas seinen raumgreifenden Körper auf den Autositz. Doch den hatte sich seine deutlich schlankere Frau erdrückend weit nach vorn geschoben. Als sein gut genährter Bauch zwischen Sitzlehne und Lenkrad steckte, blieb ihm für einen Augenblick die Luft weg. Sofort hatte das alte Nachbar-Reff wieder ihr falsches Orgasmuslächeln drauf. Wie immer, wenn es etwas Schlechtes über andere Leute zu berichten gab, zeigte sie die handwerkliche Meisterleistung ihres Prothetikers. In der Überlebenszone der einstigen West-Berliner Stadtrandsiedlung, in der Thomas Kroll, seine Frau und ihre beiden Kinder ein kleines Haus bewohnten, schwang Frau Sonder ein vergiftetes Zepter über den Häuptern ihrer lieben Nachbarn. Damit entschieden sie und ihre Mitrufmörder über den Wert jedes Mitbürgers, den es in ihren Lauschkreis verschlug. Sie und die üblichen Verdächtiger würden sich schon in wenigen Stunden das Maul über ihn zerreißen.
Haß stieg in ihm auf. Thomas Kroll haßte seine Arbeit, er haßte die schmucken Häuser, und er fühlte, daß er in diesem Moment auch die Menschen in diesen Häusern zu hassen begann. Dabei waren sie doch nicht wirklich daran schuld, daß er zu einem Schriftsteller mit Schreihemmung geworden war. Er mußte hier weg.
Tommy war heute fester denn je entschlossen, die Flucht anzutreten. Das Arbeitszimmer unter dem Dach war zu seiner persönlichen Hölle geworden. Die farbigen Gemälde über seinem Schreibtisch waren zum Leben erwacht. Aus den großflächigen Hieronymus Bosch-Reproduktionen hatten ihn die Aufgeschlitzten und die Gehörnten angegrinst, als freuten sie sich über Tommys Qualen. Aber es waren nicht die Monster aus den Bildern, die ihn quälten. Es war sein eigener Schädel, der ihm die übelsten Streiche spielte. Wenigstens für ein paar Stunden wollte er seinen Computer und die Ordner mit den Ergebnissen seiner Recherchen nicht mehr sehen. Schon seit Tagen hatte er keine vernünftige Zeile geschrieben. Aus dem Zimmer seines Sohnes hämmerten wie immer die härtesten Rap-Beats unter seine Fußsohlen. Tommys Tochter produzierte in ihrem Zimmer wie üblich einen unerträglichen Geräuschbrei, indem sie versuchte, mit den Backstreet-Boys die ultracoolen Rapper ihres Bruders zu übertönen. Und zu all dem Überfluß malträtierte der Nachbarssohn wie jeden Tag sein Klavier mit seinem Vorschlaghammer und gröhlte dazu geistliche Lieder in das Grün der Vorstadtgärten. Aber das Schlimmste war sein Gefühl der Unfähigkeit. Nur seine nächtlichen Ängste waren noch peinigender. Manchmal glaubte Tommy Kroll sogar, die schräge Decke seiner Dachkammer würde sich auf ihn herabsenken, um ihn gnadenlos zu zerquetschen. Die Arbeit am Computer drohte ihm die Luft abzudrücken; sie war sinnlos und kostete wertvolle Lebenszeit. Und seit seine Klaudia befördert worden war, benahm sie sich auch zu Hause immer öfter wie eine Vorgesetzte. Wo waren die Zeiten geblieben, in denen sie alles miteinander besprechen konnten? Thomas Kroll hockte im Auto und seine Gedanken brodelten und überschlugen sich. Der Kopf lastete ihm wie eine riesige Wassermelone auf den Schultern.
‚
„Ich habe Wassermelonen getragen
“, sagt Jennifer Grey in „Dirty Dancing“ zu Patrick Swayze’, schwirrte es durch seinen Kopf.
Er schüttelte den Gedanken, den er instinktiv auf seine weitere Verwendbarkeit hin abgeklopft hatte, aus seinem brummenden Schädel. Genau deshalb hatte er vor ein paar Minuten die Schlüssel des Japaners geschnappt und war zum Parkplatz gerannt. „Ich will hier raus!“ hatte ihn Purple Schulz aus dem Radio seines Arbeitszimmers angeschrieen, als er in seinem Computer wieder vergeblich nach den richtigen Worten bohrte.
Thomas Kroll startete den Wagen. Das krachende Geräusch des asiatischen Getriebes fuhr ihm wie eine Explosion durch den Körper. Und ausgerechnet jetzt mußte diese alte Tratsche ihm auf die Hände gucken! Er stellte sich vor, wie sich die Nachricht über seine außerirdischen Fahrkünste als ehrabschneidendes Lauffeuer durch das ganze Dorf walzte, nachdem sie aus ihrem Schandmaul gekrochen war. Wie lange war er eigentlich keinen Schaltwagen mehr gefahren? Keine Ahnung! Und wenn Klaudia nicht darauf bestanden hätte, heute den Großen zu nehmen, wäre es auch nicht zu dieser knallharten Blamage vor diesem lebenden Boulevardblatt gekommen.
„Dieses verdammte Aas!“ fluchte Thomas Kroll und stutzte sofort. Hast du eigentlich den Küchenherd abgeschaltet? Klar! Und die Fenster sind auch zu. Wasserdicht und knüppelfest! Wenn alles nur seine Ordnung hat. -
Das Autochen klang unter seiner Regie ein bißchen sauer, als müßte es das Murren seiner Besitzerin imitieren, doch dann zog der kleine Motor von Klaudias Wagen endlich an. Thomas ließ die seit Jahren ärgerliche Pfütze an der Einfahrt zur Hauptstraße und diese Informelle Nachbarin hinter sich.
‚Informelle Nachbarin... IN Sonder!’ registrierte er. ‚Gar nicht so schlecht. Muß ich mir merken.’
Hart stürzte der Kleinwagen in das erste Loch im schlecht geflickten Asphalt der Hauptstraße. Nachdem der Japaner wieder aus seiner Bitumenfalle gekrepelt war, legte Thomas butterweich den zweiten Gang ein und ließ den Kleinen über Stock und Stein hoppeln. Nach ein paar hundert Metern hatte er sich wieder an das lästige Schalten und Kuppeln der Gänge gewöhnt. Er grunzte zufrieden und staunte darüber. Thomas sah auf die Häuser des Dorfes, die ihm in den letzten Jahren so vertraut geworden waren. Aber trotzdem stellte er sich immer wieder die Frage, ob das hier sein zu Hause war. Natürlich kam mit er den Leuten hier gut aus. Aber schließlich band er nur den wenigsten auf die Nase, woher er gekommen war. Thomas Kroll hatte einfach keinen Bock auf gerümpfte Nasen und die dummen Fragen oder sogar schlaue Erklärungen der Lage im Osten, die er so nötig hatte wie ein Loch im Kopf.
Die Straße rüttelte seine Wirbelsäule heftig durch, denn der Wagen war nicht besonders gut im Abfangen der Schlaglöcher des gerade vergangenen Winters. Die Sonne brannte weiter auf das Blech des Wagens und er träumte schwitzend von seiner Klimaanlage, die Klaudia auf der Autobahn nach Süden sicher gerade kühle Luft in das selbstbewußte Gesicht blies. Endlich war Thomas an der Bundeswehrkaserne vorbei. Der englische Feldherr, der dieser Militärunterkunft zu Mauerzeiten seinen Namen geliehen hatte, war bereits vor einigen Jahren durch einen alten Preußen ersetzt worden. „Gestern noch auf hohen Rossen, heute in die Brust geschossen“, summte Tommy in das Dröhnen des Aggregates. Am Ende des Dorfes wurden die Löcher in der Hauptstraße noch tiefer, denn hier draußen investierte die verschuldete Stadt noch weniger als anderswo. Ein harter Ruck schoß in sein angeschlagenes Kreuz. Trotz aller Schütteleien wußte er aber noch zu genau, wie dringend Klaudia das große Auto heute brauchte. Bei ihrem Geschäftstreffen in einer Münchener Edelherberge machte es einen besseren Eindruck mit dem neuen BMW vorzufahren, als aus dem mickrigen Japaner zu klettern. Sie wußte schon lange, wie wichtig solche Details waren, wenn sie einen guten Geschäftsabschluß erreichen wollte. Wenn sie in ihr dunkles Kostüm und das perfekte Make-up verkleidet vor ihm stand, wagte Tommy es kaum noch, diese fremde, coole Frau zu küssen. Auch darin war sie seltsam fremd geworden. Doch Klaudias Dienstreise in den Freistaat gab ihm die Möglichkeit, einfach und kommentarlos in den Wagen zu steigen, um in eine befristete Freiheit zu kutschieren.
„Was willst du nun eigentlich?“ glaubte er Klaudias Stimme zu hören. „Keiner hat soviel Ruhe zum Arbeiten wie du auf deinem geliebten Dachboden!“
Thomas atmete erleichtert auf. Das Schild, auf dem zu lesen war, daß an dieser Stelle Berlin aufhörte, glitt an seiner rechten Seite vorbei; ganz plötzlich gab es wieder eine richtige Straße. Die Grenze ins benachbarte Brandenburg lag genau hier am Ortsausgang. Sie war bis vor einigen Jahren streng bewachte Staatsgrenze von der einen, und britische Sektorengrenze von der anderen Seite gewesen. Diese Grenze hatte immer zu seinem Leben gehört. Spielend überwand der kleine Japaner die noch immer erkennbare Linie, die früher von schwer bewaffneten Posten und völlig verblödeten Hunden gesichert worden war. Das war zu einer Zeit, als es noch fast unmöglich war, von Ost nach West zu gelangen.
Tommy verfolgte den Verlauf des unbewachten Grenzabschnittes. Ganz leise knatternd setzte sich sein innerer Projektor in Gang:
Thomas Kroll steht einige Meter vor der Paßkontrolle. Er ist von einer grummelnden Menschenmenge umgeben und krallt seine Finger um die Griffe der Reisetasche. Klaudia steht ganz dicht neben ihm und quetscht seinen Oberarm bis es schmerzt. Sie haben Angst! Das Ehepaar ist Teil einer Schlange, wie sie im Osten üblich ist. Außergewöhnlich ist nur der Grund für die Ansammlung von DDR-Bürgern, die sich gewohnt diszipliniert in die für sie vorgeschriebene Reihe gestellt haben. Hier gibt es nicht etwa die knappe H-Milch, die synthetischen Fruchtjoghurts oder sogar echte Importjeans zu kaufen. Alle Leute, die diese Schlange bilden, stehen im Glashaus am Bahnhof Berlin-Friedrichstraße. Hier werden alle vom Zoll und den Grenzern abgefertigt, die Berlin-Ost in Richtung Berlin-West verlassen dürfen. Sie alle sind privilegiert, denn ihr Staat hat ihnen gnädig erlaubt, legal die Grenze nach Westen zu überschreiten. Thomas Kroll kann immer noch nicht fassen, daß er nun zu denen gehört, von denen die Organe annehmen, daß sie wieder in den Arbeiter- und Bauernstaat zurückkehren.
Angefangen hat sein Lebensabschnitt als anderer Mensch mit einer Dienstreise in den Westen, für deren Genehmigung Tommy noch keine Erklärung gefunden hat. Er ist zurückgekommen. Wohl deshalb haben sie ihm auch noch erlaubt, zu Onkel Erwins Geburtstag von Prenzlauer Berg nach Charlottenburg auszureisen. Natürlich haben die Genossen der Volkspolizei seinen Personalausweis und seinen Wehrpaß eingezogen, bevor sie ihn in die feindliche Welt ziehen ließen.
In der ausreisewilligen Schlange im Glashaus zuckt die Nervosität. Ob sie wirklich rausgelassen werden, wissen die gelernten Schlangenglieder erst, wenn sie drüben sind. Dementsprechend eingeschüchtert ist die Menschenmenge.
Thomas Kroll ist ganz bestimmt der Aufgeregteste unter ihnen, denn er ist ein potentieller DDR-Flüchtling. Auf dem Boden in seiner Reisetasche, noch unter der Leibwäsche und den weißen Tennissocken, ruhen Ausweispapiere, die seine bürgerliche Existenz beweisen sollen, wenn er sich bei den Behörden im Westen meldet. Sollten die Zöllner und Grenzer die Ausweise und Urkunden in der Tasche nicht entdecken, will Tommy für die Kroll-Familie den Scout im wilden Westen machen. Sollten die Uniformierten seinen Fluchtplan entdecken, macht sich Thomas Kroll auf ein paar Jahre in Bautzen gefaßt.
„Hast du dir das auch wirklich genau überlegt?“ flüstert Klaudia mit einigen Seitenblicken, denn man kann ja nie wissen. „Noch können wir die Papiere aus der Tasche nehmen. Dann kommst du einfach wieder zurück, wenn der Geburtstag von Onkel Erwin vorbei ist.“
„Hör auf!“ zischt Tommy zurück. „Darüber haben wir doch wirklich lange genug diskutiert. Wenn sie mich schnappen, habe ich Pech gehabt und gehe für ein paar Jahre in den Bau. Aber wenigstens werden sie mich hier drin nicht abknallen.“
Tommy staunt selbst über die Sicherheit in seiner Stimme, denn seine Knie sind aus ekelhaft weichem Gummi.
Es dauert noch fast eine Viertelstunde, bis die Reihe an Thomas Kroll ist. Nun ist er allein. Klaudia mußte sich schon vor einigen Metern verabschieden und von den Abfertigungsschaltern zurücktreten. Sie steht jetzt auf der oberen Treppenstufe des Ostausganges. Dort haben sich alle versammelt, die nicht ausreisen dürfen. Sie winken und heulen. Thomas Kroll erlaubt sich den ablenkenden Luxus, über die Zurückbleibenden nachzudenken. Er überlegt, ob er der Einzige in der Schlange ist, der die Flocke macht? Vielleicht sind unter ihnen noch andere, die sich für viele Jahre oder sogar für immer von ihren geliebten Menschen verabschieden? Es ist wieder Mode geworden, den ersten sozialistischen Friedensstaat auf deutschem Boden in Massen zu verlassen. Die versuchen es legal, die anderen nicht.
Dann greift der Genosse Zöllner nach Tommys Reisetasche; sein Herz rumort plötzlich in seinem Darm. Thomas Kroll hofft, seine Gesichtsfarbe im Griff zu haben. Aber rings um ihn sind lauter Leute, die sich vor Angst beinahe naßmachen. In diesem Land ist es normal, die Hosen voll zu haben, wenn man von der Staatsmacht kontrolliert wird. Thomas Kroll fällt mit seinen zitternden Händen und dem blassen Gesicht nicht auf. Kraftlos und schlapp wartet er die Kontrolle ab. Nicht nur der Geist ist machtlos, wenn die Macht geistlos ist! Aber Tommy hat Glück, weil der Filzer keine Lust hat, seine Unterhosen zu durchwühlen. Mit mürrischem Gesicht winkt er den abgehenden Landesverräter schon nach einigen prüfenden Griffen in seine Wäsche weiter. Dann hat Thomas Kroll es plötzlich so eilig, daß er sogar vergißt, seiner Klaudia ein letztes Mal zuzuwinken. Das Blut pocht bis unter seine Schädeldecke und verdrängt jeden klaren Gedanken. Er denkt deshalb auch nicht daran, daß die Trennung von seiner Familie vielleicht für immer sein könnte. Thomas Kroll ist auf der Republikflucht.
Die halbdunklen Gänge hinter der Kontrollschranke nimmt er kaum wahr. Auf dem S- Bahnsteig springt er in den Zug gen Westen, als wäre er bereits dadurch gerettet. Aber er weiß natürlich, daß er sich immer noch im Osten befindet. Auch der Anblick des Grenzgefreiten in Offiziersstiefeln, der neben dem Zug patrouilliert, läßt sein Herz pausenlos weiterhämmern.
Dann zischen die automatischen Türen; endlich setzt sich der Zug in Bewegung. Tommy starrt aus dem Fenster. Er fährt über die Spree, wirft einen letzten Blick auf die Rückseite des Künstlerclubs „Möwe“, wo es immer so tolles Essen gibt, sieht auf der anderen Seite schon den Reichstag, aber er fährt immer noch vor der Grenze. Auf dem Kolonnenweg unterhalb der S-Bahntrasse rollt ein grüner Trabbi auf den B-Turm vor der Spree zu, die hier einen großen Bogen macht. Thomas kennt die Strecke, obwohl er sie nie fahren durfte. Das Hochhaus der Charitè ist das Signal, allmählich ruhiger zu werden. Jetzt muß er nur noch einmal am Humboldthafen über die Spree fahren, dann ist er im Westen. Minuten später rollt der Zug in den Bahnhof Lehrter Straße ein. Westen!
Thomas Kroll spürt ein Glucksen im Bauch. Am liebsten würde er lachen. Aber er traut sich nicht. Die Geschichten von den Flüchtlingen, die aus der DDR-eigenen S-Bahn geholt wurden, spuken noch immer durch seinen Kopf. Erst am Bahnhof Zoo wagt sich Tommy Kroll aus dem Zug. Angekommen.
So einfach ist es also, aus dem Osten abzuhauen.
Früher war ihm alles einfacher erschienen. Da hatte es auch noch keine Nachwendepoeten gegeben, die das Ausreiseaquarium am Bahnhof Friedrichstraße mit dem unsäglichen Titel „Tränenpalast“ versahen. Neulich hatte ihm ein Gleichaltriger gesagt, daß sie nun in das Alter kämen, in dem sie immer öfter
früher sagen und denken würden, aber da hatte Thomas Kroll es schon gewußt.
2. Kalte Heimat
Dieses schöne Gefühl von Freiheit, das sich Thomas Kroll von seiner Alltagsflucht versprochen hatte, wollte nicht sofort aufkommen. Erst einmal mußte er an die rechte Seite fahren, denn der stündliche Bus aus Potsdam kam ihm auf dem Kolonnenweg der abgewickelten Grenztruppen entgegen. Die Zweige der frisch gepflanzten Birken kitzelten den Motorzwerg, als er sich fast so ängstlich wie sein Kutscher zur Seite neigte, damit ihn der Omnibus nicht zerquetschte. Unter den rechten Reifen des Japaners knirschte der märkische Sand. Thomas Kroll fürchtete, mit dem Unterboden auf der hohen Asphaltkante aufzusetzen. Hektisch kurbelte er am Lenkrad herum und Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn, hinter der wieder einmal diese Panik emporstieg, die er hilflos verspürte.
Du hast ein zerrüttetes Nervenkostüm, mein Lieber, hätte Oma gesagt, versuchte er, sich zu beruhigen. Doch der fromme Wunsch genügte nicht, um die Unruhe aus seinem Kopf zu vertreiben. Mit aller verbliebenen Macht konzentrierte Tommy seine Gedanken auf die Asphaltstrecke. Er war ein erfahrener Kämpfer, wenn es um das besiegen von Angstgefühlen ging. Endlich verschwand der Omnibus auch aus dem Blickwinkel seines Rückspiegels, und die geschwungene Trasse der Straße, auf der einst Grenzposten zu Fuß, in Trabbis oder auf MZ-Motorrädern patroullierten, lag angenehm menschenleer vor ihm. Mitten in der Woche verirrten sich zu dieser Jahreszeit nur wenige Leute hierher. Nur an den Wochenenden füllten sich Wald und Flur aber mit geputzten Menschen. Thomas hatte das Seitenfenster heruntergedreht, legte seinen Ellbogen nach draußen und genoß die Strahlen der Sonne. Sogar das Blenden machte ihm nichts mehr aus.
‚Brennend heiß, der Wüstensand. So schön, schön war die Zeit...’, sendete sein musikalisches Gedächtnisradio auf zitternde Lippen.
Die nächsten Kilometer des blühenden Todesstreifens gehörten ihm ganz allein. Erst mit dem Ortseingangsschild des Nachbardorfes begann der Osten richtig. Er gab sich keine Mühe, einer zärtlicheren Umschreibung für seine aufgelöste, kalte Heimat zu suchen, die er zwar nie SBZ, aber auch nie DDR, sondern immer nur Osten genannt hatte. Welcher verwirrte Schöngeist war denn bloß auf die abwegige Bezeichnung „Neue Bundesländer“ gekommen?
Die Straße führte gerade an dem verfallenen Holzgebäude der alten Grenzkompanie des Dorfes vorbei. Die kastigen Offizierswohnhäuser erstrahlten inzwischen in den zartesten Pastelltönen; trotzdem gehörten sie immer noch zu der alten Bruchbude nebenan. Das märkische Kopfsteinpflaster bullerte unter den Rädern des Autos, während Thomas durch das ehemalige Grenznest fuhr. Durch sein offenes Fenster beizte sich der Gestank aktiver Hausschornsteine in seine Nase. Thomas kannte diesen brandigen Dunst bestens, und sein persönliches Gerüchearchiv erinnerte ihn an die Zeit seiner Kindheit und Jugend. Thomas Kroll war ein waschechter Prenzlauer Berger. Einige seiner Vorfahren hatten schon vor hundertzwanzig Jahren die am Windmühlenberg hochgezogenen Mietskasernen trockengewohnt. Wenige Wochen zuvor hatte Tommy seinen irgendwie gelangweilten Kindern erzählt, daß es damals Menschen gegeben hatte, die im Auftrag der Bauherren von Neubau zu Neubau zogen, um die Feuchtigkeit aus dem frischen Mauerwerk zu heizen. Waren die Schwindsüchtigen verschwunden, richteten sich die richtigen Mieter dort ein. Erst als sich die Windmühlenflügel nicht mehr auf ihrem angestammten Hügel drehten, wurde aus der nordöstlichen Boomtown der Prenzlauer Berg. Niemals war jemand von den angestammten Bewohnern darauf gekommen, ihn Prenzelberg zu nennen. Das war eine Erfindung der Spinner von j.w.d. (janz weit draußen) Tommys Ahnen lebten und arbeiteten auf ihrem Prenzlauer Berg, zeugten Kinder, gingen in die Kriege der Großen und starben dort oder zu Hause, mitten in ihrer großen Stadt. Seine Leute übertrieben es mit dem Sterben jedoch, wie Thomas mit erst fünfundzwanzig Jahren feststellte. Inzwischen war er nämlich nicht nur das älteste, sondern beinahe auch das letzte Familienmitglied geworden. Doch dann traf ihn Klaudia wie ein Hammerschlag.
Für Tommy hat das Jahr 1980 einschneidende Veränderungen gebracht. Und keine guten. Aber zum Grübeln bleibt kaum Zeit. Mit seinem Diplomatenkoffer, in dem er sein Einbruchswerkzeug mit sich herumschleppt, ist er zu der Verabredung in Bommels Wohnung erschienen. Seine eigene Wohnung hat er nur wenige Tage zuvor geknackt. Nachdem ihn die Tanten vom Wohnungsamt tausend Mal vertröstet und verarscht haben, hat auch er sich selbst versorgt. Auf dem Prenzlauer Berg stehen hunderte Wohnungen leer. Aber die staatliche Behörde sieht nicht durch oder vergibt Wohnungen nur an Verwandte, liebe Freunde oder Busenfreunde des Parteistaates. Da bleibt nur die Selbsthilfe! Ständig ziehen junge Leute durch die Hinterhöfe der Mietskasernen , suchen, öffnen und besetzen Wohnungen, in die kein anderer ziehen will oder darf. Alle diese Behausungen, die sie beziehen, ohne um Erlaubnis zu bitten, sind von den eigentlich Verantwortlichen längst vergessen und verfallen schon seit Jahren. Auch um Tommys Hinterhauswohnung hat sich jahrelang kein Schwanz gekümmert. Das Klo ist explodiert und der Fußboden vom Schwamm zerfressen. Aber daraus kann wieder eine Wohnung werden. Unter den widrigen Umständen sozialistischer Mangelwirtschaft versetzt er die illegal besetzte Trümmerhütte in einen bewohnbaren Zustand. Bommel geht mit ihm in jeder Nacht Bretter klauen. Er hat ihm auch bei der Suche und beim Aufbrechen seiner Wohnung geholfen. Tommy hat sofort zugesagt, als ihn sein Freund um Hilfe für eine Freundin bat; und der Auftritt dieser Frau verschlägt ihm glatt den Atem. Als sie endlich eintrudelt, wird ihm die Luft im Raum zu dünn. Thomas versteht ihre Worte kaum, dabei sind es doch so viele, denn sie quasselt pausenlos. Nur ein paar Fetzen von ihrer Erzählung erreichen sein Gehirn; Tommy Kroll besteht nur noch aus Auge und Lende.
Als selbst Klaudia einmal Luft holen muß, brechen die drei Freunde auf. Zuerst aus Bommels Bude, danach die Wohnung, die SIE ausgesucht hat. Für Studenten mit einem Kinderzimmer bei den Eltern ist es in Ostberlin absolut unmöglich, ohne Vitamin B eine Wohnung zu bekommen. Der sozialistische Staat hat ihr einen Vogel gezeigt; Klaudia durfte erst gar keinen Antrag auf Versorgung mit Wohnraum stellen.
Deshalb mischt sich auch Klaudia unter die kriminellen Wohnungsbesetzer. Nur ein paar Minuten, nachdem Klaudia über ihn gekommen ist, stehen sie auf dem Absatz einer Quergebäudetreppe und Tommy bricht in aller Seelenruhe die Tür zu Klaudias „Glück im Hinterhaus“ auf. Er braucht dazu das Werkzeug nicht, das ihm hilfsbereite, vielleicht zukünftige Nachbarn von Klaudia zur Verfügung stellen wollen. Sein Koffer enthält alles Nötige. Klaudia sieht staunend, wie er erledigt, was die anderen bei den bisherigen Versuchen nicht geschafft haben. Tommy vergißt die Gefahr der Verhaftung und wird unter den Blicken dieser wunderbaren Frau zu einem unüberwindbaren Riesen, dem allerdings immer noch die Worte fehlen. Erst ein paar Stunden später, als sie zu dritt an einem Tisch in der „Bodega“ sitzen, wagt er sie anzusprechen. Doch wie soll sie ihn verstehen, bei dem Höllenlärm in dieser Spelunke. Die meisten der Stammgäste tragen die Verwundungen aus den Schlägereien der letzten Zeit zur Schau, wie schwer errungene Trophäen. Doch Tommy Kroll kennt das und ausgerechnet heute kümmern ihn ihre Gipsarme, Augenklappen und Armschlingen noch weniger als sonst. Alle drei Freunde schreien gegen die dröhnende Musikbox an, neben der ihr Tisch steht und lachen sich fast die Seele aus dem Hals. Doch Tommy ist es eigentlich egal, wo und wie er mit Klaudia zusammen sein kann. So kann aus seinem schwarzen Jahr doch noch etwas werden!
„Großer Auftritt“ wäre schon das richtige Wort für ihr Eintreffen gewesen! Thomas lächelte blöde gegen die Frontscheibe des kleinen Japaners, als er an Klaudias Tigersprung in sein Leben dachte. Sie war niemals in die Wohnung eingezogen, die er für sie geknackt hatte. Seine Wohnung, mit dem Luxus einer eigenen Innentoilette ausgestattet, erwies sich als groß genug für zwei Personen - später sogar für drei. Klaudias Bude verschenkten sie an einen weiteren Freund, der sofort und glücklich in die winzige Hinterhauswohnung mit dem Außenklo zog.
Aber auch Thomas’ Wohnung war alles andere als komfortabel. Der Dielenfußboden der Zimmer durfte stellenweise wegen akuter Einbruchgefahr nicht betreten werden, denn alles konnten auch sie nicht reparieren. Wie in einem Nachkriegszustand verbrachten sie in diesem schäbigen Hinterhaus die glücklichsten Jahre ihres gemeinsamen Lebens. Tommy hatte es nie erwarten können, wieder nach Hause zu kommen, wo Klaudia schon auf ihn wartete. Manchmal war es ihnen in ihrem lichtlosen Paradies sogar gelungen, alles zu vergessen, was sie draußen störte. War es wirklich so einfach, glücklich zu sein?
‚„Glück im Hinterhaus“, und Dieter Mann hat, wenn ich mich recht entsinne, beim Sex die Socken anbehalten’, erinnerte sich Thomas Kroll an den passenden DEFA-Streifen.
Wie unkompliziert unser Leben trotz der Schwierigkeiten gewesen ist?, dachte Tommy. In ihrer primitiven Bude war immer Trubel, denn irgend jemand klopfte immer an ihre Tür, um sie oder sich zu einem Umtrunk oder einer Fete einzuladen. Dann schnappten sie sich eine Flasche „Cabernet“, schmierten ein paar Schmalzstullen und ab ging die Post. Niemand fragte nach der Marke der Garderobe oder mußte unbedingt von seiner neuen Ausrüstung für den letzten Skiurlaub in den Schweizer Alpen berichten.
Thomas Kroll verzog das Gesicht, als er an die letzten Partys in seiner gut situierten Vorstadtheimat dachte, vor denen er sich nicht drücken konnte, ohne für ungesellig gehalten zu werden. Und was konnte in der Welt der Kleinbourgeois zu einem schlimmeren Ruf führen als das Prädikat „Partymuffel“? Spießerleins Festivitäten hießen dann „Brunch“ oder „Barbeque“ und waren doch nur Brechreiz erzeugende Werbeveranstaltungen, bei denen jeder Gast den anderen übertreffen mußte. Thomas Kroll verzog sich jedes Mal in die entfernteste Ecke, wenn eines dieser „Mein-Haus-mein-Pferd-mein-Auto-Kampfgespräche“ startete. Er fiel auch immer wieder negativ auf, weil er an seiner Gewohnheit festhielt und ein kühles Bier mit einer schönen Blume dem modischen Chablis vorzog. Dabei hatte er es lange versucht, sich zu benehmen, als hätte er niemals unter anderen Umständen gelebt. Allerdings war aus ihm nie ein Weinkenner geworden, und alle anderen Gäste interessierten sich dem entsprechend wenig für seine Ausführungen zur Braukunst. Erst allmählich war ihm aufgegangen, daß ihm das weder gelingen würde, noch konnte, so zu sein, wie diese „gelernten Wessis“. Seitdem ihn diese Erkenntnis wie eine heilende Flutwelle überrollt hatte, ging es ihm geringfügig besser.
Tommy sah konzentriert auf die Katzenköpfe, die gleich darauf unter seinem Auto verschwanden. Schon nach ein paar hundert Metern verendete das Dorf im abgeschafften Niemandsland. Am Straßenrand tauchte das Hinweisschild für den großen Ortsparkplatz auf. Tommy bog ab.
An diesem Tag, mitten in der Woche, war die Automenge auf dem Platz gut überschaubar. Er sah nur zwei Wagen, die weit voneinander entfernt abgestellt worden waren. Das vordere Auto stand mit offener Fahrertür direkt neben der Einfahrt. Im Inneren des frisch geputzten Opels sah Thomas einen verschrumpelten Greis mit extrem gelber Gesichtsfarbe im Fahrersitz liegen.
‚Gegen den sah Boris Karloff in „Die Mumie“ absolut frisch aus’, zuckte ein Schock durch Tommys Kopf.
Sofort ging er in die Eisen! Dieser Alte machte den Eindruck, als würde er dringend nur noch die Hilfe eines Priesters benötigen. Seine Augen waren geschlossen, der Mund halb geöffnet, so daß der Blick auf seine makellosen Dritten frei wurde. Jeden Augenblick drohte sein ausgemergelter Körper aus dem geöffneten Wagen zu rutschen. Das trockene Röcheln aus seinem Hals, das sogar das rollende Auto übertönte, beruhigte Thomas auch nicht sonderlich. Der grobe Kies des Parkplatzes knirschte hart unter den Reifen des Japaners; der Tattergreis schlug überrascht die Augen auf. Tommys eigenes Gesicht drückte in diesem Moment mindestens soviel Entsetzen aus wie dieses faltige, in ostasiatisches Gelb gehüllte Opagesicht. Doch dann verschob ein verstehendes Lächeln die unzähligen Runzeln des alten Mannes.
„Keine Angst, junger Mann! Ich ruhe mich hier nur aus, während meine Frau einen ihrer geliebten Waldspaziergänge macht. Mir ist das schon lange zu anstrengend.“
‚Und wahrscheinlich muß der alte Zausel alle seine restlichen Kräfte für die Heimfahrt aufsparen’
, beruhigte sich Thomas Kroll.
Nach einigen Atemzügen wurden seine vibrierenden Nervenstränge wieder ruhiger. In letzter Zeit flippte er bei jeder Kleinigkeit aus, ohne etwas dagegen tun zu können: ‚Warum gelingt es allen anderen Menschen, ihr Leben in Ruhe zu leben?’ fragte er sich wieder. Thomas war erleichtert, sich nicht um eine Leiche am Straßenrand kümmern zu müssen. Er winkte dem Alten zu und fuhr weiter.
Langsam rumpelte er zum hinteren Teil der gerodeten Fläche. Hier stand Thomas Kroll im Schutz einer Baumgarde von echten Langen Kerls, deren Umfang und Höhe ihn immer wieder den Atem stocken ließen. Wenn er mit seiner Klaudia hierher kam, waren nur selten Naturbeobachtungen oder Romantik angesagt. Auch hier setzte es die ewig gleichen Diskussionsschlachten, die immer wieder im Nichts endeten. Napoleon gegen den Rest der Welt und Arminius gegen die Römer. Aber im Teutoburger Wald hatte es wenigstens einen Sieger gegeben...Die letzten Jahre hatten sie beide zum besten Beispiel dafür werden lassen, wie Alltagskram das Leben versauen konnte. Seit sie die letzten vernünftigen Worte miteinander wechselten, ohne sich in die Haare zu geraten, waren sicher schon Monate vergangen. Dabei hatte es doch eine Zeit gegeben, in der sie sich auch ohne Worte verstanden hatten. Doch er an diesem Tag war Tommy selbst für gute Worte nicht mehr empfänglich. Der Zyklus des ungewollten Wachseins hatte ihn wieder einmal seit Wochen fest im Griff. Dazu gehörte, daß ihn die Hoffnung auf Schlaf bereits verließ, wenn er sein Bett nur sah. Ein immer gleiches Gefühl sagte ihm dann, wie übel die Schlaflosigkeit ihm auch in der vor ihm liegenden Nacht mitspielen würde. Mit steifem Körper, die Glieder wie mit Blei gefüllt, lag er in diesen Nächten unbeweglich auf seiner Matratze. Um seine Klaudia schlafen zu lassen, versteinerte er in dieser Aufbahrungspose wie weiland der gottgleiche Genosse Lenin in seinem Mausoleum. Aber im Gegensatz zu Towarisch Uljanow lebte Thomas Kroll noch ein wenig. In diesem Dämmerzustand wurde sein Bewußtsein zu einem offenen Trichter, der alles aufnahm, was ihn verletzen konnte. Sein brummender Schädel füllte sich umgehend mit einem bunten Gedankensalat. Wild wirbelten die Denkteile durch sein hilfloses Hirn. Wenn es soweit gekommen war, konnte Tommy nur noch die weiße Fahne schwenken. Widerstand war zwecklos. Dann lag er mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und hoffte, daß etwas seine Kapitulation akzeptierte und doch noch mit ein wenig Schlaf honorierte. Thomas Kroll haßte es, nachts so in seinem Bett zu liegen. Wenn es von Klaudia nicht zuviel verlangt gewesen wäre, hätte er in dieser Zone zwischen Himmel und Hölle am liebsten die hübsche Kugellampe auf dem Nachttisch brennen lassen, in jeder dieser verdammten Nächte. Ihn hätte das Licht jedenfalls nicht gestört. Wieviel Jahre es ihm schon so ging, konnte er nicht mehr sagen, dafür waren es zuviel. Am Anfang hatte er sogar versucht, Müdigkeit zu erzeugen, bevor er in die Federn stieg. Nichts, null, zero, nada! Bis zur Erschöpfung hatte sich Tommy abgestrampelt. Aber das machte es nur noch schlimmer. Jedesmal, wenn Tommy danach völlig zerstört in seinem Bett lag, wurden seine antrainierten Schutzschilde ebenso schwach wie er selbst. Grauenhafte Denkrammen rollten aus seinem Unterbewußtsein herauf und erschütterten mit jedem ihrer Angriffsstöße seine mühsam herangekarrten Schutzwälle. Die Rammen stellte er sich immer wie eiserne Käfer vor. Sie durchbrachen alle Mauern, bohrten sich durch unsichtbare Löcher in seine Rübe und hefteten sich an sein entblößtes Nervenkostüm. Das widerliche Ungeziefer kroch immer tiefer in sein Unterbewußtsein. Dann mußte Tommy Koll alle Kräfte mobilisieren, um sie hinter die Stacheldrahtverhaue ihrer eigenen Frontstellungen zurückzudrängen. Doch es waren leider nicht nur die insektenähnlichen Tanks, die Offensive auf Offensive gegen ihn führten. Da erschien in ekelhafter Regelmäßigkeit dieser Finstermann. Er trat ins Zimmer, obwohl Tommy absolut sicher war, abgeschlossen zu haben. Der Fremde kam lautlos auf Tommys Bett zu.
„Einbrecher! Mörder!“ schrie dann das halbschlafende Krollhirn in panischer Angst und stumm. Und bedauerlich selten funktionierte in diesen Momenten seine stärkste Waffe: Nur manchmal gelang es seinen trainierten Scharen grauer Zellen, sich aus dem schrecklichen Traumland zurückzuholen. Nach seinem eigenen Weckschrei saß er dann neben der aus ihrem Schlummer gerissenen Klaudia im Bett. Zum Glück war sie mit einem unnatürlichen Schlafdrang gesegnet. Schon nach Sekunden sank sie wieder selig in Morpheus Arme; regelmäßig vergaß sie bis zum nächsten Morgen auch die Kraftausdrücke, mit denen Thomas sie beide in die Realität zurückgebrüllt hatte.
Der Motor tuckerte im Leerlauf und Thomas sah über den Waldparkplatz zu dem Halbtoten im Opel. Aus dem Lautsprecher des Autoradios dröhnten „Foreigner“, die inbrünstig den „Dirty white boy“ besangen. Thomas Kroll hatte die Nase gründlich voll von den miesen, täglichen Sorgen, der sie beide vom eigentlichen Leben abhielt. Es konnte doch nicht sein, daß auch ihr Leben nur aus so etwas Spießigem, wie den Sonderangeboten der Kaufhäuser oder der Bepflanzung unseres Vorgartens bestand!
Seine aggressiven Gedanken schossen wieder einmal wie Leuchtkugeln durch seinen Schädel. In dieser Donnerkuppel konnte keine vernünftige Idee gedeihen. Seit einer Viertel Ewigkeit hatte er in seinem neuen Manuskript keine gute Zeile zustande gebracht. Und dabei gab es auf der weiten Welt niemand, der den neuen Roman schneller fertig bekommen wollte als Thomas Kroll selbst. Doch wenn er vor diesem verdammtem Computer saß und diese seltsamen Sätze fabrizierte, schüttelte es ihn manchmal vor Lachen und Entsetzen, wenn er gerade noch rechtzeitig die Blödheit seiner geistlosen Produkte begriff. Keiner dieser Pappkameraden, die seinem müden Schädel entschlüpften, machte sich die Mühe, aus seiner Idee eine plausible Geschichte mit richtigen Menschen zu machen. Jedesmal griff die Angst nach seinen Hals, wenn dieses schreckliche Gefühl in ihm aufkam, ihm könnte seine Phantasie abhanden gekommen sein!
„Versuch, nicht dran zu denken, Mann. Deshalb bist zu hierher gekommen. Vergiß es für ein paar Stunden!“
Ein warmer Wind fegte durch die mächtigen Baumwipfel, die über den Parkplatz einen Schattendeckel legten. Vor seine schwarzen Gedanken drängten sich trotzdem die immer gleichen Vorwürfe, die ihm Klaudia auch bei ihrem letzten Waffengang in diesem Wald um die Ohren gehauen hatte. Hier hatte es keinen Sinn, nach Ruhe zu suchen. Thomas startete resigniert den Wagen und ließ ihn langsam zur Ausfahrt zurückrollen. Der alte Opelmann hob seinen Kopf mit dem Hautüberschuß von der Stütze und nickte ihm grüßend zu, als der Japaner auf die Asphaltstrecke zurückkletterte. Thomas verließ den trostlosen Ort und tauchte in das flimmernde Halbdunkel des Mischwaldes ein.
‚Nobel geht der Sozialismus zugrunde’, dachte Thomas Kroll.
Die makellose Asphaltstrecke durch den Wald war wohl die einzige und letzte Neuerung für diesen Ort im Stacheldraht gewesen, den selbst seine Bewohner jahrzehntelang nur mit der entsprechenden Sondergenehmigung betreten durften. Rechts von der Straße tauchte der lang gezogene See wieder im Wald ab. Im Winter gab er eine schöne Eislaufbahn und im Sommer einen akzeptablen Badesee ab. Wahrscheinlich hatte sich das Ministerium für Staatssicherheit deshalb am anderen Ende des Sees eine Bungalowsiedlung eingerichtet, die seit einigen Jahren ungenutzt und von Randalierern zerstört, wieder im Wald des ehemaligen Grenzgebietes versank.
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