Nachdem ich heute meinen Kaffeesud nach Hinweisen auf den weiteren Verlauf der Coronakrise durchsucht habe, stelle ich zufrieden fest, dass das Ende eben dieser Krise nahe. Der charakteristische Pfeil nach rechts im Kaffeegries, ähnlich dem Piktogramm für das männliche Geschlecht, zeigt nach oben. Es geht aufwärts, verheisst er. Das Virus ist zwar noch nicht besiegt, einige Schlachten sind noch zu schlagen, der Krieg aber ist gewonnen. Das suggeriert der Blick in den Filter.
So mental gewappnet, mache ich mich auf eine Expedition durch die aktuellen Meldungen zur Lage. Das RKI, sozusagen das Führerhauptquartier im Coronakrieg, meldet eine Inzidenz von 74. Ignorant ich, der nicht weiß, was diese Zahl genau bedeutet. Irgendwie hat sie mit der Anzahl der Neuinfektionen pro einer gewissen Einwohnerzahl zu tun. Sind es 100.000 oder eine Million? Egal. Weiter. Der Chef eben dieses Instituts erklärt, es sei zu früh für Lockerungen. In den Leserkommentaren gehen die Meinungen auseinander, wild durcheinander. Von Covid-Diktatur ist ebenso die Rede wie von einer fahrlässigen Laissez-faire-Politik der Regierung. Die einen fordern Öffnung aller Türen für alle, die anderen Quarantäne für das ganze Land. Dazwischen eine Melange von dies und das. Corona geht mir auf die Nerven. Ich will es nicht mehr hören, dieses Gegacker. Jeder Ahnungslose trägt seine Stimme bei zur Kakophonie des Covid-Panikorchesters.
Gibt es ein Grundrecht auf Idiotie? Auf vorsätzliche Dummheit? Auf mutwillige Destruktivität im Meinungsaustausch? Diskurs heisst das heute. Pardon. Oder sind die meisten dieser Stimmen nur Ausdruck von unbedarfter, aber ehrlicher Besorgnis? Virologen, Epidemiologen, Psychologen, Pädagogen, Demagogen, Ökonomen, Ökologen, Astrologen und noch viele andere Logen und Nomen werfen ihre Meinungen, Analysen, Befunde und Prophezeihungen in die bunte Arena der Talk- und Printformate, der sozialen und asozialen Medien. Soziopathen und Paranoiker singen genauso mit im Chor der Kassandras, Pythien und Apokalyptiker, wie seriöse Wissenschafter, Meinungsmacher und Kommentatoren. Wer kennt sich noch aus? Wer soll das überblicken?
Ich beschließe Netz- und Medienquarantäne für den Rest des Tages. Das ist gar nicht so einfach. Computer ausschalten. Handy? Offline. Radio? Nur mehr Musik. Besser ganz abschalten. Es wird ruhig um mich herum. Der Körper und sein motorisches Gedächtnis will einschalten. Alles. Licht, Herd, Radio, TV, Computer. Ich muß mich beherrschen. Gehe hinaus. Ins Freie. Handy vergessen. Gut so. Ich will ja abschalten. Wie das so ist mit dem Wollen. Die Gedanken jagen dahin wie eine Horde wilder Mustangs. Gehe hinauf zum Wald. Auf dem Weg dahin bläst mir ein eisiger Nordwind ins Gesicht. Die Nase friert zuerst. Ich beschleunige meine Schritte. Habe ich abgeschlossen? Der Schlüsselbund in meiner Anoraktasche legt das nahe. Kein Mensch weit und breit. Sonst sind hier um diese Zeit viele Leute unterwegs. Die meisten mit ihren Hunden. Die kacken die Wegränder und Feldraine voll. Die Hunde werden immer mehr. Früher hielten nur Bio-Österreicher Hunde. Inzwischen holen die Neo-Österreicher auf. Selbst Türken und andere Muslime halten neuerdings Hunde. Das gab's früher nicht. Ein Zeichen für Integration? Wie steht es um Katzen? Schwer zu sagen, weil die nicht Gassi geführt werden müssen. Die gehen selber raus. Oder bleiben gleich in der Wohnung. Ich erreiche den Waldrand. Der Kältestress durch den Wind nimmt ab. Im Wald ist es beinah windstill. Mir wird warm. Ich schlage den gleichen Weg ein wie immer. Warum wähle ich nicht mal einen anderen? Gleich mehrere Wege böten sich an. Ich bleibe auf dem gewohnten Pfad. Der Boden ist hart. Gefroren. Schnee liegt nur wenig. Von den Baumkronen rieseln Graupeln.
Dieser Tage wäre Thomas Bernhard 90 Jahre alt geworden. Ein literarischer Weltankläger, ein gekränkter Dauerbeleidigter, dessen Gesuder und Geseier man auf den ersten Seiten amüsant findet, mit jeder weiteren Seite aber immer langweiliger und fader, bis man noch vor der Mitte den Text angewidert beiseite legt. Bernhard hat dem berechtigten Anliegen, dem österreichischen Alltagsfaschismus und der postnazionalen Amnesie die scheinheilige Maske von der Fratze zu reissen, einen Bärendienst erwiesen. Durch seine maßlose Übertreibungen, durch sein manisch-mantrisches Monologisieren, durch seine blindwütigen Anschuldigungen gegen alles und jeden, eine verletzte, gekränkte Seele, die sich offenbar durch aggressives Verfassen immer gleicher Anklageschriften Erleichterungen verschaffte. Schreibtherapie mit Anerkennung durch den Literaturbetrieb. Darin ähnelt er Handke, der auch durch Verachtung des Publikums Zustimmung findet und eine masochistische Lesegemeinde um sich schart. Es ist wohl ein Wesensmerkmal vieler zeitgenössischer Künstler, dass sie ihr Publikum verachten. Und je mehr sie es verachten und beschimpfen, umso mehr bewundert werden. Umso erfolgreicher sind. Das spricht weniger gegen die Künstler als gegen das Publikum, das offensichtlich zu blöd ist, diese Masche zu durchschauen. Oder zu verunsichert und entwurzelt, als dass es sich ein eigenes Urteil bilden kann. Und bloß nachbetet, was trendige und hippe Kritik ex cathedra und unfehlbar von den Kanzeln der Kunsttempel predigt, Bestsellerlisten und Auktionserlösen folgend. Kurswert statt Kunstwerk.
Die Sonne scheint mir ins Gesicht, tiefstehend aus einem Wolkenfenster, von einem grauen, windzerzausten Himmel. Was vermeid ich denn die Wege, die die andern Wandrer geh'n? Der gute Wilhelm Müller. War der aus anderm Holz geschnitzt als unsere modernen, hochmütigen, selbstverliebten Kunstpharisäer? Mir scheint aus seinen Versen eine Liebe zum Menschen in seinem Leid hervor zu schauen, ein Mitgefühl mit den Blinden, Vermessenen, Vergessenen. Waren die Künstler seiner Zeit noch lauterer, ernsthafter, ehrlicher? Oder sind das auch bloß Zuschreibungen eines heutigen, desillusionierten, verbitterten und vergrämten Zappelphillips im Spinnennetz medialer Dauerbeschallung und Zwangsbeglückung? Nostalgie anstelle intellektueller Neuralgie?
Die Sonne hat sich wieder hinter grauem Schleiergewölk verschanzt, der Wind ist stärker geworden, als ich den Wald verlasse und über eine kahle Anhöhe laufe. Ein paar Vögel, sorry, es sind Krähen, ich kann nichts dafür, es ist keine absichtliche Anspielung auf die Winterreise, ein paar schwarze Vögel lassen sich vom Wind treiben, krächzen ärgerlich und entfernen sich, kleiner werdende Punkte in einem Koordinatensystem aus Augenmetrik, Himmelsgeometrie und neuronalen Signalen. Was ist das alles? Illusion, Realität, Bewusstsein, Traum, Konstruktion, Chemie, Physik, Schwingung, Quantenfluktuation ... ?
Ich komme mir vor wie eine Banane mit braunen Flecken, die achtlos in den Müll geworfen, sich ihrer Existenz auf einer Palme als heranwachsende Frucht, voll Kraft und Saft, erinnert. Woher, wohin? Wem kann ich trauen? Dem Gefühl, der Ratio, den Sinnen? Relativitätstheorie oder Quantenmechanik? Jehova oder Buddha? Paradies oder Nirvana? Ich entscheide mich für das Nichts. Nichts ist vollkommener als das Nichts. Aber das Nichts gibt es nicht. Nichts ist nichts. Weil da ist immer etwas. Ich verfluche das Etwas. Ich verfluche alles, was ist. Alles. Weil alles, was ist, unvollkommen, leidvoll, imperfekt, mangelhaft, fehlerhaft, verabscheuungswürdig ist. Nur das Nichts ist vollkommen. Aber das Nichts gibt es nicht. Kann es nicht geben. Weil es sonst nicht Nichts wäre. Scheisse. Ich verfluche die Welt, den Kosmos, das Universum, die Multiversen, Gott, Götter, die Physik, alles. Verflucht sind wir, in Ewigkeit Amen.
(wird fortgesetzt. Vielleicht)
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