Viele glauben, Sokrates sei unschuldig verurteilt worden und habe aus Gründen der Loyalität gegenüber den Gesetzen Athens die von seinen Freunden ihm ermöglichte Flucht nicht genutzt.
Das ist nur bedingt richtig.
Sokrates ist ganz folgerichtig von seinen Landsleuten zum Tode verurteilt worden. Er war schuldig im Sinne der Anklage. (Ob für die einzelnen Anklagepunkte eine Todesstrafe zwingend ist, ist eine andere Frage, die aber mit dem eigentlichen Tatbestand nichts zu tun hat.)
Der Streitpunkt im Prozeß war jener: Sollen wir nach dem verlorenen Krieg (gegen Sparta) so weiterleben wie bisher?
Die Hauptankläger Meletos und Anytos nahmen sich den Hauptvertreter der Seite aufs Korn, der mit seinen (mißratenen) Schülern Kritias und Alkibiades Athen großen Schaden zugefügt hatte. Stand nicht zu erwarten, daß es Sokrates' Lehre gewesen war, die immer wieder solche demokratiefeindlichen Monstren wie die Genannten hervorbringen würde? Stand nicht zu erwarten, daß Sokrates alle Denkenden auf Distanz zum Staat hielt, weil nur diese Distanz Freiheit für die Besserverdienden verhieß? War Sokrates nicht somit ein zutiefst undemokratischer Denker? Und hatte er nicht zeit seines Lebens durch die Verweigerung der Annahme jedes ihm angetranenen Amtes immer wieder bewiesen, daß er gegen jede anders verlautende Beteuerung gegen die politische Struktur seiner Heimatstadt eingestellt war? Ja, schlimmer noch, als in Sparta die dreißig Tyrannen herrschten, da arbeitete er mit, da gab er denen Argumente zum Aufbau einer an Sparta orientierten Oligarchie.
Sokrates' Fragen zielten immer auf die Bewußtwerdung der Differenz von Sitte und Moral. Er wollte das Unsichtbare sichtbar machen, den im Einzelwesen schlummernden numinosen Einzelbezug zum Daimon; damit würde er das athenische Selbstbewußtsein aushöhlen und die Grundfeste des Staates entfestigen. Die Athener sahen die Relativierung ihres Glaubens, eine Sophisterei, selbst wenn Sokrates hier allen Widerspruch einlegte und sagte, er sei kein Sophist, so war die Wirkung seines Tuns doch die nämliche, eine Aufklärung des Dunklen, des göttlichen Urvertrauens an eine hinterlichtige wirksame Macht, die den Athenern unbefragbar war. Sokrates aber beharrte auf seinem Daimon, dem Stimmchen in ihm, einem allgemein-gefaßten. Schuldig. Schuldig. Schuldig.
Und schließlich, wenn da mancher glaubt, es sei ein politischer Schauprozeß der Reichen gegen Sokrates gewesen. Umgekehrt: Es war ein Schauprozeß der Armen gegen die reiche Schülerschaft des Sokrates, deren jeder reich genug war, Sokrates auszulösen.
Daß Sokrates dies ablehnte und die im attischen Gesetz verankerte Fluchtmöglichkeit ausschlug, ehrt ihn. Er hatte wohl erkannt, daß er in den Anklagepunkten schuldig war, wenngleich er sich in einem höhren Sinne keiner Schuld bewußt sein konnte, hatte er doch immer nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.
Nun, manchmal reicht das nicht.
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