Las heute einen interessanten Beitrag zum Thema "Rebellentum" bei buecher.de, den ich als Auszug hier wiedergebe:
"Der Verfasser wendet sein Instrumentarium auf zwei konkrete historische Vorgänge an: auf die Reformation und auf die Französische Revolution. Sieht man sich diese beiden Abschnitte genauer an, finden sich 27 Seiten über die Reformation und knappe zwanzig Seiten über die Französische Revolution. Die Analyse verblüfft zunächst durch die Behauptung, die Ausbreitung der Reformation gehöre in das Gebiet mikrohistorischer Forschung. Für Luther und Melanchthon ergibt sich freilich der unbefriedigende Status des Erstgeborenen. Für die Bereitschaft, den neuen Glauben anzunehmen, hätten die Reformationshistoriker acht Merkmale ermittelt, die vom Alter und sozialen Status der Beteiligten über die Städte, die Fürsten, die politische Macht, die humanistische Bildung und die Schichtzugehörigkeit bis zum Einfluß der Region reichen. Dies sei freilich zu schwierig zu integrieren; daher will der Autor statt dessen eine Gruppe von 718 Persönlichkeiten der Reformationsepoche aller Bekenntnisse und aus allen Schichten untersuchen. Das Ergebnis wird nicht mehr verblüffen: signifikant höhere Anteile für Spätergeborene unter den Anhängern der Reformation.
Auch die Analyse der Reformationstheologen und der "Märtyrer der Reformation" bestätigt die Grundthese. Aus Luther macht unser Spezialist jetzt einen virtuellen Erstgeborenen, der solche besonderen biographischen Voraussetzungen mit sich bringe, daß die Wahrscheinlichkeit zur Unterstützung der Reformation bei ihm signifikant höher werde als bei anderen Erstgeborenen. Das ist gut zu wissen. Auch die Tatsache, daß Kaiser Ferdinand I. (ein Viertgeborener) wegen seiner spanischen Kindheit zu einem "funktional Erstgeborenen" gemacht wird, soll das Vertrauen in die gebotene Theorie stärken.
Aber just hier liegt die Schwäche der Argumentation Sulloways. Er beginnt sein Reformationskapitel mit den in der Historie üblichen komplizierten Fragen nach den Bedingungen für die Ausbreitung der Reformation, bemerkt dann, daß diese Fragen zu schwierig seien, und stellt folglich seine einfachen Fragen an ein Sample von kreuz und quer zusammengesuchten Personen, die freilich die schwierigsten Fragen nicht beantworten. Natürlich ist die Durchmusterung der 718 Persönlichkeiten der Reformationsepoche gewiß nicht falsch und als solche durchaus interessant, nur ist es leider nicht die Antwort auf die Frage, die die Forschung interessiert.
Dieses Verfahren scheint auch die Seiten über die Französische Revolution zu durchziehen. Natürlich kann hier der Verfasser nicht das gesamte Personal durchmustern. Er konzentriert sich deshalb auf die Auseinandersetzung mit der marxistischen Historiographie und kommt wieder zu dem Ergebnis, daß nicht Klassenzugehörigkeit zu den politischen Differenzierungsprozessen vor allem seit August 1792 geführt habe, sondern die Geschwisterdifferenz. Kurz zusammengefaßt, nimmt Sulloway an, daß immer mehr "Liberale" und Spätergeborene in die Nationalversammlungen gekommen seien. Die Feuillantiner, die sich im Sommer 1791 von den Jakobinern abspalteten, bestünden zu einem hohen Anteil aus Spätergeborenen, ebenso wie die meisten Gemäßigten der "plaine" im Nationalkonvent. Der Sieg der Bergpartei habe dann wieder die Erstgeborenen an die Macht gebracht, auch der Wohlfahrtsausschuß sei von Erstgeborenen dominiert gewesen. 'Mit dem Fortschreiten der Revolution spaltete sich Fraktion um Fraktion ab, und zwar jeweils entlang den Linien der Geburtenfolge.'
Es liegt auf der Hand, daß damit eine gänzlich neue Theorie der Französischen Revolution in ihrer radikalen Phase formuliert ist. Natürlich hat auch die bisherige Forschung Familienkonflikte und Differenzen von Brüderpaaren berücksichtigt, aber Sulloways Modell geht weit darüber hinaus. Seine eindrucksvolle Theorie hat nur einen Nachteil: Sie existiert hinter dem Rücken der Akteure, sie wird niemals als Konfliktpunkt genannt, an keiner Stelle ist sie Gegenstand einer Strategiedebatte. Würde Sulloway - um die Sache überspitzend zu verdeutlichen - mit Zahlen belegen können, daß sich die Parteibildung der Revolution nach Links- oder Rechtshändern vollzöge, so hätte er gewiß formal recht, nur würde es wenig erklären, da die Quellen nichts über den Streit über die Schreibhand aussagen."
Lesezeichen