Ein wenig Unterhaltung.
23. 4. 2036, 15.23Uhr
Der Kinnriemen scheuerte meine Haut auf und hinterließ einen hellroten Streifen. Auch mein Sichtfeld war begrenzt. Auf dem Visier des Helms hatte sich ein dünner Film aus Wassertropfen gebildet, der die Welt vor meinen Augen zu einem weißlichen Nebel verschwimmen ließ. Kein großer Verlust, wenn man bedenkt, daß ich seit zwei Stunden die gleiche Aussicht hatte: links im Blickfeld die letzten drei Buchstaben einer Cola-Werbung in klassischem rot - weiß, ein geteerter Fußweg, dahinter Beton.
Ich verlagerte mein Gewicht und versuchte unauffällig, mit dem dicken Handschuh unter den engen Riemen zu greifen, um ihn zu lockern.
"Alles okay, Gül?" fragte Werner vom CD neben mir leise.
"Toll." , sagte ich gelangweilt, und spürte, wie seine Schultern neben mir erstarrten. Sehen konnte ich ihn nicht. "Der Helm drückt. Aber wenn ich in einem Winkel von siebzehn Grad nach links sehe und nicht daran denke, daß ich pinkeln muß, tut es fast gar nicht weh." fügte ich hinzu. Er lachte leise und entspannte sich. "Sie hätten uns wenigstens einen Leinwand aufstellen können", sagte er.
"Mir reicht es auch so."
"Funkstille einhalten, bitte.", Kleeses Stimme knisterte angespannt aus dem Kopfhörer. Danach war es ruhig bis auf die Ansagen des Stadionsprechers. Nur manchmal drangen Stimmen aus dem Stadion, ein dumpfes Stöhnen aus mehreren tausend Körpern, das fast nichts menschliches hatte. Wir konnten die Vibrationen der Menge unter unseren Stiefeln spüren.
Wir standen am Ausgang C des neuen Millerntor-Stadions, Champions League, HSV gegen Manchester, siebenundachzigste Minute. Fünfunddreißigtausend Zuschauer, achttausend davon wurden als gewaltbereit eingestuft. Weiter dreitausend drängten sich vor den riesigen Videowänden der Innenstadt. Wir dagegen kamen selbst mit den Kollegen aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein nicht auf mehr als viertausendfünfhundert Mann. Es würde ein Gemetzel geben. Wir hatten Angst, jeder von uns. Um ehrlich zu sein.
"Noack gibt ab an Mbele, ein schöner Paß, aber da ist auch schon Ritchards - unglaublich, wie schnell der Mann rennen kann - Grüntz steht frei. Noack. Da kommt auch schon - Foul! Foul!". Die Stimme des Sprechers überschlug sich fast. "Scheiße." , sagte Werner neben mir.
"Das gibt einen Elfmeter, und ja, Baudrillet zieht Gelb, die zweite gelbe Karte für Manchester.."
"Okay. Ihr habt es gehört.", sagte Kleese dicht an meinem Ohr. "Wir erwarten den Schlußpfiff in etwa drei Minuten. Zug zwei und drei an die Treppen zur Westkurve. Der Rest bleibt auf seinem Posten."
Die Vibrationen unter meinen Füßen wurden stärker. Die Stimme des Sprechers ging jetzt fast unter in den Sprechchören. "Mbele übernimmt selbst, Bierhoff scheint großes Vertrauen in ihn zu setzten. Bis vor dreizehn Monaten saß Mbele noch bei Bayern auf der Ersatzbank...." Einzelne gellende Schrei hoben sich aus dem Gebrüll. Die Zuschauer mußten sich aus ihren Sitzen erhoben haben. Rote Leuchtkugeln hoben sich in den Himmel. "Paßt auf am linken Spielfeldrand.", sagte Kleese.
"Und Mbele trifft! Jaa! Eins zu Null für Hamburg!", drang die Berichterstattung durch den Lärm.
"Ich kann überhaupt nichts sehen.", murmelte Werner neben mir.
"Darauf kommt es nicht an."
"Wir setzen Tränengas ein.", schrie eine Stimme aus dem Mikro dicht an meinem Ohr. Ich zuckte zusammen.
"Eins zu Null in der dreiundneunzigsten Minute durch einen Elfmeter von Mbele. Damit wäre Hamburg im Endspiel, und die Stimmung tobt - Am Stadionrand spielen sich jetzt tumultartige Szenen ab, einige hundert Fans versuchen, das Spielfeld zu stürmen. Und da ist er auch schon, Baudrillet pfeifft ab -"
Die ersten Zuschauer hasteten an uns vorbei, Familienväter, die ihre schreienden Kindes fest an sich gedrückt hielten, während sie sich durch die Absperrungen drängten. Aus dem Stadion drang noch immer Geschrei, unter das sich jetzt das Zischen der Wasserwerfer mischte. Vor meinen Augen schoben sich hunderte von Menschen vorbei, fast alles Männer. Manche trugen Kinder auf ihren Schultern. Ihre Gesichter waren vor Aufregung gerötet unter den rot-weißen Mützen, die hier viele trugen. Ich konnte ihre Zungen sehen, wenn sie schrien. In ihren Kleidern trugen sie den Geruch von Schweiß, Rauch und Alkohol. Ab und an reckten sich Fäuste in die Luft. "HSV! H-S-V!" Die Stimmen waren heiser, aber ihre Blicke glitten im Siegesrausch an uns vorbei.
"Hier spricht die Polizei. Räumen sie bitte das Spielfeld." Eine neue Stimme sprach über das Stadion - Mikrophon, ein tiefer, entschiedener Bass. Darüber der an- und abschwellende Klang von Sirenen. "Hier rüber! Sie brechen durch!" schrie eine Stimme in meinem Kopfmikro. "Der mit den roten Haaren!" Neben mir schlug Werner sich gegen den Helm, um das Mikro auszuschalten. Ich blinzelte und duckte den Kopf. "Ein Krankenwagen auf Sektion b, leichte Platzwunde. Ich wiederhole...".
"Schaltet das Scheiß Mikro aus!" brüllte jemand, und die Leitung verstummte auf einen Schlag.
"Gott.", sagte Werner. "Idioten."
Bei uns am Ausgang wurde es ruhiger. Viele Zuschauer waren oben auf den Rängen geblieben, um sich das neue Spektakel anzusehen, das sich jetzt auf dem Feld unter ihnen ausbreitete. Manchester Lions gegen HSV Fanclub, irgendwo dazwischen wir. Oder beide gegen uns. Ich hasse Fußball.
"Frau Lewien?" meldete sich Kleeses atemlose Stimme.
"Ja?", sagte ich. Normalerweise duzen wir uns.
"Wie sieht es bei ihnen aus?"
"Ruhig."
"Nehmen sie einen Zug runter zu den Sicherheitszellen. Zug zwei hält die Stellung."
"Okay Leute. Ihr habt‘s gehört.", sagte ich. "Grassmer übernimmt Zug eins. Zwei kommt mit mir. Und los."
"Viel Glück", sagte Grassmer. Ich antwortete nicht.
Und so weiter.
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