Tod eines Lyrikers
Theaterstück in zwei Szenen
Bühne
Ein Wohnzimmer mit moderner Einrichtung, Polstermöbel, Couchtisch, Hifi-Schrank, Steroanlage sowie große Boxen. Ansonsten gilt das Prinzip der Aussparung.
Personen:
Sie, Ende Dreißig
Er, Anfang Vierzig
ein Freund (F.), Anfang Vierzig
Szene Eins
Sie sitzt im Zimmer und hört eine Verdi Oper.
Er kommt zur Tür herein; langsam, übernächtigt, blaß, kränklich.
Er: Schalt das Radio ein, es kommen die Nachrichten.
Sie steht auf und schaltet das Radio ein.
Ein Nachrichtensprecher ertönt aus dem eingeschalteten Radio.
Er: Dann stell’ doch auch die Musik ab!
Sie: Nein!
Er: Warum nicht?
Sie: Weil ich meine Oper zu Ende anhören möchte!
Er: Und ich will die Nachrichten hören!
Sie: Du hörst sie doch!
Er (ganz laut, um die Lautkulisse vollständig zu übertönen):
Ich kann die Nachrichten nicht hören, wenn die Musik so laut ist!
Sie: Mich stören die Nachrichten nicht!
Er: Klar, weil die Musik viel lauter ist!
Er stellt das Radio lauter. Daraufhin stellt sie die Musik noch lauter. Beide Geräte sind bis zur Schmerzgrenze aufgedreht. Beide schalten nach einer Weile die Geräte des jeweilig anderen aus.
Er: Endlich ruhe!
Er setzt sich erschöpft in das Sofa. Sie zündet sich eine Zigarette an und bläst ihm den Rauch ins Gesicht.
Er: Du weißt doch, daß ich Zigarettenrauch nicht vertrage!
Sie: Ja.
Er : Warum bläst du mir dann den Rauch in mein Gesicht?
Sie: Weil ich ihn irgendwohin blasen muß, um nicht daran zu ersticken.
Er steht wütend auf und schaltet wieder das Radio ein.
Nachrichtensprecher aus dem Radio:
...Der Iran startet eine Gegenoffensive.
Er schaltet das Radio sofort wieder aus.
Sie: Der Iran erkennt die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik an.
Er: Seit wann interessiert dich so etwas?
Sie: Seit ich die Bibel zum fünftenmal gelesen habe. Du beziehst zuviel Stoff aus ihr!
Er: Ich verstehe den Zusammenhang zwischen Bibellesen und deinem Interesse für Politik nicht!
Sie: Ich verstehe deine Bücher, deine Stücke endlich.
Er: Wir haben sie alle diskutiert. Immer und immer wieder.
Sie: Doch wer sagt, daß es mich auch nur einmal interessierte, diese öden Diskussionen, dieses ewige Lamentieren, das hohle Geschwätz, Inhalte hervorzaubern, wo keine sind! Das kotzt mich an.
Er: Ich dachte, es interessierte dich!
Sie: Ja, so kann man sich täuschen - alles was dich interessiert bist du - deine Eitelkeit, deine Selbstvergessenheit - deine Täuschung!
Er: Du willst mich herausfordern, kränken, vernichten!
Sie: Nein, das brauche ich nicht - du bist krank - schwer krank!
Er: Wenn es so weitergeht, werde ich bald sterben!
Sie: Deshalb solltest du auch die Bibel lesen.
Er: Ich kenne die leidlichen Geschichten!
Sie: Aber du glaubst nicht daran!
Er: Warum sollte ich?
Sie: Wir haben kein Kreuz in der Wohnung! Wir sollten eines aufhängen!
Er (entrüstet): Hier! In diesem Raum? Bist du verrückt?
Sie: Ja, denn du wirst bald sterben!
Er: Willst du mich umbringen?
Sie: Wie kommst du darauf?
Er: Bis der Tod euch scheidet.
Sie: Eben.
Er steht auf, geht hinaus.
Nach kurzer Zeit kommt er mit zwei Brettern zurück.
Er verläßt erneut den Raum und kommt mit großen Nägeln und einem Hammer wieder herein.
Er legt die Bretter kreuzförmig zueinander und nagelt sie zusammen.
Er schlägt sich auf den Finger und flucht:
Er: Verdammt noch mal! Scheiß handwerkliche Arbeit!
Sie: Was machst du daß
Er: Du wolltest ein Kruzifix an der Wand haben.
Ich baue dir eins.
Sie (lakonisch): Willst du auch noch einen Jesus schnitzen?
Er: Nein, ich werde mich selbst hinnageln! Meine Hand werde ich an die äußere Kante
legen, den Nagel zwischen Zeigefinger und Ringfinger einklemmen, sie angewinkelt auf die Handfläche legen und dann den Nagel mit voller Wucht durchschlagen. Den anderen Nagel mußt du hineintreiben!
Sie: Mach keinen Unsinn!
Er: Bevor du mich ins Grab bringst, bringe ich mich selbst lieber ans Kreuz!
Sie: Schreib lieber ein Buch, ein Theaterstück darüber!
Er: Dazu ist es zu spät. Ich habe keine Zeit mehr. Die Uhr ist abgelaufen. Meine Uhr, ja meine Uhr.
Schweigen.
Er nagelt die Bretter weiter zusammen.
Sie: Hast du noch einen Wunsch?
Er: Bis der Tod uns scheidet. Laß uns ins Theater gehen!
Sie: In ein Stück von dir?
Er: Ja.
Pause entsteht.
Sie: Erzähle mir, was das für ein Theaterstück ist?
Er: Anstatt wie üblich, nehmen die Zuschauer nicht im Zuschauerraum Platz, sondern werden direkt auf die Bühne geleitet, auf der für sie Stühle aufgestellt wurden. Der Vorhang ist zum Zuschauerraum geschlossen. Wenn die Vorstellung beginnt, ich muß noch dazusagen, daß nicht für alle Besucher genügend Stühle vorhanden sind, also einige müssen stehen, werden sich beschweren, werden ihren Unmut freien Lauf lassen, öffnet sich der Vorhang. Die Schauspieler sitzen im Zuschauerraum. Sie klatschen und lachen, deuten mit den Finger auf einzelne Personen und beschimpfen das auf der Bühne verlorene Publikum.
Sie: Du willst mich auf die Bühne setzen?
Er: Genau. Niemand spricht.
Sie: Sinnlos.
Er: Ja alles.
Er geht hinaus und holt sich eine Tablette und ein Glas Rotwein, schluckt die Tablette und trinkt mit Rotwein nach.
Sie: Ist es deine Aufgabe, eine unangenehme Situation zu schaffen?
Er: Warum meinst du, daß Kinder weinen, wenn Sirenen heulen?
Sie: Wir haben keine Kinder. Du hast nie welche gewollt. Du sagtest immer: Schriftsteller müssen frei, ungebunden sein, keine lästigen Bälger am Hals haben, die einem das Leben schwer machen - ja geradezu einem das Leben nehmen. Ein Leben tauschen - nein, das sei nicht dein Sinn!
Er: Intuitiv. Das Kind hört die Bedrohung. Im Sirenenton hallt der Schreck, das Entsetzen mit. Die Gefahr ertönt, sie ist offensichtlich.
Sie: Wir leben in der Hölle und du beschreibst sie - du bist sie!
Er: Ich muß das Brot verdienen, das wir verfressen.
Oder ein anderes Stück:
Das Theater lädt obdachlose Menschen ein, sie können es sich auf der Bühne gemütlich machen. Die einzige Bedingung: Am Abend gibt es eine Vorstellung und die Bewohner sind das Stück, frei zur Betrachtung, sind verpflichtet, sich dem Bürgertum zu stellen, sie müssen saufen, huren, vergewaltigen, schlagen - dafür sind sie da, das ist ihr Lebenssinn. Sie sind die Unterhaltung für die Zahlenden, es ist dem Publikum gestattet, Hartgeld auf die Bühne zu werfen. Zweimal wird der Vorhang fallen, damit das Publikum weiß, wann es klatschen darf.
So lösen wir die Wohnungsnot und die Theaterkrise.
Sie: Wir sind schon im Theater.
Er: Die Exhibitionisten werden nicht aussterben - genausowenig wie die Voyeure.
Sie: Eben.
Es entsteht eine Pause.
Sie: Du schreibst keine Lyrik und keine Prosa mehr. Deine Theaterstücke sind mit ein paar Sätzen skizziert, die Anderen agieren, so wie sie sind, du bist sprachlos, leer, krank!
Er: Es mangelt an Regieanweisungen. Ich bin zu schwach, um noch zu schreiben.
Sie: Du wirst alt und du wirst bald sterben, doch du willst die Bibel nicht, und auch keinen Pfaffen.
Er: Ich werde den Tod auch so überstehen.
Sie: Hast du ein Testament gemacht?
Er: Mein letzter Wunsch! Ja, wenn ich tot bin und wenn ihr anfangt, euch zu zerfleischen, wegen der paar lumpigen Mark, dann sollt ihr, bevor ihr Euch das Geld unter den Nagel reißt, alle hier in das Zimmer kommen und die Anzahl meiner gelebten Jahre mit Kerzen aufwiegen und warten, bis die letzte Kerze verbrannt ist. Und ihr müßt schweigen - auf das Flackern hören.
Sie: Du bist krank!
Er: Ich schreibe jetzt mein Testament, bevor meine Hand zerstochen am Kreuze blutet.
Sie: Also gehen wir nicht mehr ins Theater!
Er: Meine Stücke werden nicht mehr aufgeführt. Die Zeit ist vorbei. Ich werde mich jetzt ans Kreuz nageln. Die Lebensversicherung ist abgeschlossen.
Sie: Du bist nicht Jesus!
Er: Wer behauptet denn so etwas?
Sie: Du, natürlich.
Er: Wieso denn das?
Sie: Weil du dich ans Kreuz nageln willst.
Er: Wieviele Menschen wurden ans Kreuz genagelt, ohne daß sie Jesus waren. - Viele, sehr viele. Und die geschnitzten Figuren? Sind das alles Jesuse? Und Jesus selbst - hat er nicht einen anderen geschickt, um sich zu schonen, warum sonst atmen wir alle den Geruch der Verwesung ein?
Sie: Dein Stück ist makaber!
Er: Die Wirklichkeit ist makaber!
Sie: Was hat das damit zu tun?
Er: Wenn der Iran die DDR-Staatsbürgerschaft anerkennt und gleichzeitig Krieg führt, ist das nicht makaber - oder wenn der Papst das Kondom verbietet, wie mir der Arzt den Alkohol.
Sie: Du trinkst zuviel.
Er: Das war dein Stichwort. Jetzt kannst du auftreten. Du frißt zu viele Tabletten.
Sie: Ich bin nicht krank.
Er: Deine Psyche ist krank.
Sie: Was sagst du da?
Er: Die drohende Einlieferung!
Sie (schreit): Schweig!
Er: Warum, weil ich krank bin, schwach bin und bald sterbe?
Sie: Du zermürbst mich - du zerstörst mich, du bist es, der mich krank macht.
Er: Zermürbt sind wir alle. Die Angst um das Tägliche, schlimmer noch, um das Morgen, das keine Zukunft hat, und das verlorene Gestern, das keine Vergangenheit hat.
Gott war barmherzig, er hat uns wenigstens den Alkohol gegeben. Dazu bedurfte es keinen Prometheus. Doch er, Gott, schlug die Alkoholabhängigen mit ihren Ärzten. Eine Teufelsmühle, ein Weg ohne Ende. Am Besten man spricht nur noch in Metaphern. Die Metaphysik verstand ich noch nie.
Es läutet die Wohnungsklingel.
Sie: Er kommt!
Er: Endlich.
F: Ich wünsche einen guten Abend.
Er: Sarkast!
F: Was habt ihr denn, Zensur?
Er: Der Innenminister macht mit seiner Gespensterangst, Zensur.
F: Es ist immer das Gleiche.
Sie: Wir wählen doch alle vier Jahre.
Er: Die Demokratie ist ein Kunstwerk. Man betrachtet es im Museum. Es besteht aus einer Liste mit Namen alter verkalkter Männer - und aus einem Wulst von Zahlen. Und man sieht Arschlöcher, ausgestopfte Arschlöcher.
Sie: Sei nicht so vulgär!
F: Er hat schon recht.
Sie: Was wollt ihr, ein anderes System?
Er: Anarchismus.
F: Kommunismus.
Sie: Faschismus.
Er: Was zum Saufen.
Er trinkt sein Glas leer.
Er: Entschuldigung, aber ich konnte nicht mehr.
Willst du auch ein Glas?
F: Nein danke.
Sie: Sei nicht so höflich zu ihm.
F: So wie er aussieht, stirbt er bald.
Er: Sprich es nicht aus. Ich habe angst. Seht ihr das nicht?
Sie: Wovor denn?
Er: Vor dem Tod.
F: Vor dem Elysium?
Er: Vor dem Feuerschwert und dem Kerubim.
Sie: Trink!
Er: Ich seh’ es schon.
F: Reiß dich doch zusammen.
Pause entsteht.
Er (brüllt): Ich habe ihn gesehen!
F: Wen?
Er: Den Tod.
Sie: Schnell, etwas zu trinken.
Er trinkt und erbricht sich.
Er: Die Angst dreht einem den Magen um.
Szene Zwei
Es brennen 42 Kerzen.
Sie sitzt allein im Zimmer.
Sie: Jetzt wird er zum Mythos.
Er starb am Kreuz.
Man spricht viel über ihn.
Man preist ihn.
Er ist in den Himmel gefahren.
Es flossen Tränen, wider Erwarten.
Alles spricht für sich.
Vor allem die Erlösung.
Vor allem die Offenbarung.
Sie nimmt die Bibel und liest vor:
Sie: Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gab, damit er seinen Knechten zeige, was in Bälde geschehen muß; und gewiesen hat er sie durch seinen Engel seinem Knecht Johannes.
Der legt Zeugnis ab von dem Wort Gottes und von dem Zeugnis Jesu Christi, von allem, was er schaute.
Selig der Leser und die Hörer der prophetischen Worte und die sich an das halben, was darin geschrieben steht. Denn die Zeit ist nahe.
Noch nie war die Zeit so nah wie jetzt. Ich weiß, daß er gestorben ist und daß auf uns das Flammeninferno niedergehen wird. Selig sind die Toten und selbst die kommen vors Gericht.
Das Weltgericht.
Und ich sah einen Thron, groß und weiß, und den der darauf saß. Vor seinem Angesicht flohen die Erde und der Himmel, und keine Stätte wurde mehr für sie gefunden. Und ich sah die Toten, die Großen und die Kleinen, vor dem Throne stehen, und Bücher wurden aufgeschlagen. Und noch ein Buch wurde aufgeschlagen, das ist das Buch des Lebens; und die Toten wurden gerichtet nach dem was in den Büchern geschreiben stand, nach ihren Werken. Und das Meer gab die Toten heraus, die in ihm waren, auch der Tod und die Unterwelt gaben die Toten heraus, die in ihnen waren und sie wurden gerichtet, jeder einzelne nach seinen Werken. Und der Tod und die Unterwelt wurden in den Feuerpfuhl geworfen. Das ist der zweite Tod, der Feuerpfuhl. Und wenn jemand nicht im Buch des Lebens verzeichnet gefunden wurde, so wurde er ebenfalls in den Feuerpfuhl geworfen.
Er kommt herein und macht das Licht an.
Er: Liefert sie doch endlich ein!
Er nimmt sein Glas, wirft es gegen die Wand und löscht die Kerzen
Er: Es ist vorbei.
Sie: Zerstört die Welt.
Epilog:
Sprecher: Die Psychopathie zeigt ein auffälliges Verhalten bestimmter Menschen auf, unter dem der Betreffende in aller Regel nicht zu leiden hat. Vielmehr ist es die Umwelt, also die Mitmenschen, die den Zustand ertragen müssen. Es gibt verschiedene Erscheinungsformen, die einen Psychopathen auszeichnen, so ob er nun reizbar, fanatisch, selbstunsicher, gemühtlos oder haltlos ist. Allen gemeinsam ist jedoch, daß sie keine dauerhaften zwischenmenschlichen Beziehungen eingehen können, da der Psychopath nicht in der Lage ist, etwas Gefühle wie Zuneigung und Symphatie zu entwickeln. Er selbst ist nur ein Spiegelbild der Gefühle, um seine Interessen durchzusetzen. Doch er wird nie die negativen Konsequenzen einsehen können. Auch wird er nie die geltenden moralischen Normen akzeptieren.
Ende.
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