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Rapallo 1922

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  • Rapallo 1922

    Im Jahre 1921 wurde im Londoner Zahlungsplan die Höhe der Reparationsleistungen festgelegt: 132 Milliarden Goldmark in 43 Jahren.[1] Der Reichstag nahm an und legte damit eine Regierungskrise bei, die entstanden war, weil im Reichshaushalt keine genaue Bezifferung der zu zahlenden Leistungen an die Entente-Sieger fixiert werden konnte, diese zugleich auf Milliardenzahlungen bestanden und Amerika als Vermittler nicht zur Verfügung stehen wollte, also die Deutschen mehr oder weniger ihren Feinden ausgeliefert waren, ohne zu wissen, woher sie Gelder nehmen konnten, um deren An­sprüche zu erfüllen. Die SPD verlor an Glaubwürdigkeit, als sie dem Londoner Zahlungsplan zustimm­te und so den Reparationen eine moralische Berechtigung gab. Sie betonte bei der Sozialistischen In­ternationale 1922, daß sie die Revolution vier Jahre zu spät gemacht und den Krieg nicht verhindert habe, der deutscher Schuld entsprang. - 1919 hatte Scheidemann noch betont, daß die Hand verdor­ren müsse, die Versailles unterschriebe.
    Lenin und Genossen sahen keinen Sinn darin, der anderslautenden Märchengeschichte einer alleinigen deutschen Kriegsverantwortung durch den Beitritt zu „Versailles“ Glaubwürdigkeit zu verleihen. Zwar wollten die Sowjets gerne wieder am westlichen Kapitalmarkt einsteigen, aber nicht zu diesem politischen Preis.

    Da schien das Angebot aus Berlin doch eine wesentlich günstigere Gelegenheit zu sein, finanziell wie eben auch politisch. Schließlich lief die deutsch-sowjetische Zusammenarbeit hinter den Kulissen bereits nicht schlecht. So gut hatten sich diese Kontakte entwickelt, daß in Deutschland bei Teilen der Reichswehrführung und Wirtschaft und Gesellschaft von einer aktiven sowjetisch-deutschen Zusammenarbeit bei der Überwindung der Versailler Vertragsbestimmungen geträumt wurde.

    Allen voran stand einmal mehr die Republik Polen im Fokus, deren Existenz nicht nur in deutschen Militärkreisen vielen ein Dorn im Auge war. Auch in Moskau konnte man sich vorstellen, Polen demnächst als neue Sowjetrepublik zu begrüßen.

    Der in Genua ebenfalls anwesende Reichskanzler Joesph Wirth und die ihn begleitenden Repräsentanten der Reichswehr hatten jedoch Tatsachen geschaffen. Ihnen lag vor allem an den informellen Beziehungen mit dem revolutionären Rußland, von denen man sich im Rahmen der „Schwarzen Reichswehr“ die militärische Zusammenarbeit in jenen Bereichen versprach, die Deutschland eigentlich durch den Versailler Vertrag verboten waren, der Fliegerei etwa, oder auch dem Umgang mit gepanzerten Fahrzeugen. (Scheil)
    Im ersten Jahr erfüllte das Reich seine Zahlungspflicht mit Mitteln, die es ihm Reich akquirieren konn­te (auswärtige Anleihen durften nicht aufgenommen werden), 1922 war das nicht mehr möglich. Frankreich wollte repressiv reagieren, also im Reich einmarschieren, aber die britische Regierung blickte weiter und konnte die französische bei einem Treffen in Cannes überzeugen, daß auch Frank­reich daran gelegen sein müsse, daß das Reich solvent werde, also mehr Freiraum benötigte. Dazu benötigte man Konferenzen, die Verträge inaugurieren (vorbereiten helfen) sollten. Eine erste dies ins Auge fassende Konferenz fand in Genua statt; sie sollte unter dem Deckmantel einer europäi­schen Lösung wirtschaftliche Fragen des Kontinents besprechen und Voraussetzungen dafür schaf­fen, die allgemein schlechte Wirtschaftslage zu beenden, zugleich aus der moralisch fixierten Schuld des Reiches am Weltkrieg (Versailler Vertrag) eine politische erzeugen, woraus dann finanzielle Wie­dergutmachungsforderungen (Anleihen des Staates, die dieser auf seine Bürger umlegen würde) fol­gen würden. Der Plan ging in Genua nur partiell auf, denn während der Konferenz gelang es Rathe­nau als Vertreter des Reiches, mit Sowjet-Rußland in Rapallo ein deutsch-russisches Handelsabkom­men zu unterzeichnen, das Rußland aus der internationalen Isolierung holte, dem Reich einen Wirt­schaftspartner verschaffte und zugleich der Reichswehr die Möglichkeit bot, in Rußland, fernab der Argusaugen der Entente, Reserveübungen abzuhalten, die es dem Reich erlaubten, seine Wehrkraft zu erhöhen, ohne das Versailler Diktat zu brechen.[2] (Gleichwohl darf man sich fragen, wie die Reser­vistenausbildung in Rußland organisiert werden konnte, denn ist kaum anzunehmen, daß Polen den Transport von tausenden jungen Deutschen durch sein Staatsgebiet anstandslos wird hingenommen haben.) Die Westmächte mußten umdenken, denn wenn das Reich mit Rußland diese begonnene Zu­sammenarbeit vertiefen würde, bestand die Gefahr des Erstarkens sowohl Sowjet-Rußlands als auch des Reiches - und zwar unabhängig von westlichen Geldern und damit Abhängigkeiten.
    Rathenau konnte die in Rapallo beschlossene Verständigung mit Sowjet-Rußland nicht mehr ausgestalten, denn kurz nach Rapallo wurde er auf dem Wege zur Arbeit von zwei Angehöri­gen der Organisation Consul getötet. Das Attentat führte zur verfassungsändernden Durchsetzung des Republikschutzge­setzes, mit dem die Konstituierung eines Staatsgerichtshofs in Leipzig einherging. Der Widerstand gegen dieses Freiheits­rechte beraubende Schutzgesetz kam von rechts, nicht von links, denn die Machtverhältnisse hatten sich umgekehrt: Die Mächtigen saßen links, taten also alles, um den von ihnen er­rungenen Staat zu schützen, auch auf Kosten persönlicher Freiheitsrechte. Mit der Durchsetzung des Gesetzes erwiesen sich seine Verfechter als Totengräber der Weimarer Republik. Zwar wurde das Gesetz am 21. Dezember 1932 außer Kraft ge­setzt, allerdings hatte es Rechtsgrundsätze gebeugt und somit den im Januar 1933 an die Macht kommenden Nationalsozia­listen die Handlungsrichtung vorgegeben, wie sie im Kontext einer bürgerlichen Zivil­ordnung ihre Macht statuieren könnten. 1922 machte der deutschnationale Politiker Bazille deutlich, welche Rechtsgrundsätze die Parteien von der USPD bis zur DVP ausgehebelt hatten, um ihren Staat fortan schützen zu können.



    [1] alias 23200 t Gold: 809 Milliarden € (Stand Februar 2015)

    [2] Bizarre Nebenwirkung: Während im Reichstag Groener (Reichswehrminister) und die bürgerlichen Parteien samt SPD behaupteten, es gäbe keine geheime Aufrüstung (im Grunde richtig, aber es gab eine verschleierte Mannschaftsstärkenhe­bung), wußten dies die Kommunisten durch ihre Kontakte zur Sowjetmacht besser (wie hier der 1937 von den Bolschewiken ermordete Kippenberger, KPD, ausführt) und brachten die in Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee er­zielte Wehrkrafterhöhung zwar nicht zur Sprache, behaupteten aber, daß die Reichswehr letztlich als Handlanger imperialis­tischer Bestrebungen gegen die Kommunisten gerichtet sein müsse - früher oder später. Bizarr, da es doch die Bolschewi­ken waren, die der Reichswehr Ertüchtigungsmöglichkeiten boten!
    Brüning bestätigte in seinen Memoiren, daß Wirth (Zentrum/CDU) 1921 Borsig zur Investition von 120 Millionen RM (etwa 1,3 Milliarden €) in Sowjet-Rußland veranlaßt habe; imgleichen Krupp zur gleichen Zeit. Beide verloren ihre Ein­sätze um 1931. (Brüning, S. 482.)













  • #2
    zweite Lesart: Der Schlüssel zum Verständnis heutiger Vorgänge liegt in der Vergangenheit. Vergangenheit ist nichts Abgeschloßnes, sondern ein Stoff, der stets neu geformt wird - und zwar von den Nachkommen. So kenne ich inzwischen vier Interpretationen der Vorgänge in Rapallo 1922. Eine gab ich oben zum besten, eine weitere kömmt nun.

    Deutschland ist das Kernland der Welt. An der deutschen Stellung zu den Dingen erkennt man den Kurs der Weltpolitik. 1922 war Deutschland ein Paria-Staat, ALLEINIG schuldig am gerade beendeten Weltkrieg, ausgeschlossen aus allen weltwirtschaftlichen Verflechtungen, die Deutschland Vorteile gebracht hätten, eingebunden in weltwirtschaftliche Verflechtungen, potentiell, weil die deutschen Weltfirmen ihre Verbindungen besaßen, die leicht wieder aktiviert werden könnten, kinetisch, da sich v.a. amerikanische Konzerne billig deutsche Anteile oder gar ganze Firmen selber holten, Inflation und politische Schuldzuweisung und Zentralbanksystem sei Dank.
    In Britannien sah man das mit gemischten Gefühlen, in Frankreich gar nicht gern und in Italien wuchs der Wunsch, mit dem Reich Ausgleich zu finden, schließlich schwelte da noch die österreichisch-südtirolische Frage.
    Also rief man alle nach Genua zu einer internationalen Konferenz, um die wirtschaftlichen und finanziellen Probleme der Nachkriegsordnung zu besprechen. Die USA sagten ab. Klar, was hätten sie auch erreichen können? Sie hatten ja alles, könnten also nur verlieren. Die anderen kamen, auch Sowjet-Rußland trat an, denn es gab große Forderungen auf sowjetrussischer (Zerstörungen durch westliche Truppen im russischen Bürgerkrieg, der 1922 noch tobte) und westlicher Seite (die Sowjetmacht enteignete rigoros, v.a. französisches Kapital aus der Zeit vor 1914 war nun sowjetischer Staatsbesitz geworden). Man sprach miteinander, fand aber keine Lösungen. Die beiden "Bösen" sondierten, arrangierten: man traf sich nachts in einem Nachbarort Genuas, in Rapallo. Der bürgerliche Kanzler Wirth und hohe sowjetische Prätendenten, der bekannteste dürfte der sowjetische Außenminister Tschitscherin gewesen sein. Man sprach deutsch. (Tschitscherin war zur Hälfte Deutscher) Und das, was man besprach, war das, was auf westlicher Seite schrillte: die Deustchen und die Russen fanden irgendwie zusammen. Der Super-Gau, wenn man es dazu kommen ließe. Ja, was denn? Ja, wo denn? Ja, wie denn? Die gerade im Westen angekommenen Deutschen, mit Versailles gemaßregelt und gedeckelt, entwickeln mit den Bolschewisten eine Art potielle Weltmachtphantasie? Alles streng geheim. Keiner erfuhr davon. Klarerweise war das ein Angriff auf die Nachkriegsordnung.
    Die Deutschen brauchten eine Verstärkung ihrer Armee - Rußland bot diese Hilfe an, indem es deutschen Reservisten Übungen in Rußland erlaubte. Rußland brauchte deutsches Wissen im Aufbau einer Rohstoffindustrie. Deutschland brauchte genau diese Rohstoffe, um die Technologien zu praktizieren. Lukrativ für beide. Genau das, was man im Westen nicht wollte. Wenn die Deutschen und die Russen gemeinsam... Das würde alles in Frage stellen. Vielleicht würden sich dann auch noch bolschewistische Phantasien in Mitteleuropa entfalten. Vielleicht aber würde sich Deutschland dann auch Polen greifen, dieses Störelement in den deutsch-russischen Beziehungen. Also wieder Krieg. Der sowjetische Botschafter schrieb über Rapallo:

    erstellt von Adolf Joffe, Botschafter der SU in Bärlin 1922 und an den Gesprächen in Rapallo aktiv beteiligt, schrieb vor seiner Reise nach Genua/Rapallo an Lenin:
    In der bürgerlichen Welt findet im großen Maßstab ein Kampf zwischen Europa und Amerika um die Hegemonie in der Welt und im kleinen Maßstabn zwischen England und Franakreich um die Hegemonie in Europa statt. Unter diesen Bedingungen werden wir zur wählerischen Braut, um deren Hand alle anhalten. Und zu den wichtigsten Fragen zählt die, ob wir uns in Genua verheiraten oder weiter eine solche Braut bleiben.
    Nun, die SU verheiratete sich zwar nicht mit dem Reich, aber Tschitscherin und Joffe (beides halbe Deutsche) entschieden einen Richtungsstreit unter den Bolschewiki zugunsten des Reiches. Stalin entschied erst um 1935, daß die geostrategische Zusammenarbeit mit dem Reich beendet würde. Tschitscherin starb 1936.
    Die wichtigsten Ergebnisse von Rapallo:
    1. Beide Seiten verzichten auf Ansprüche, die durch den Krieg entstanden sein könnten.
    2. Man will diplomatisch Beziehungen aufbauen, die wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit evozierten.
    3. Man gewährt einander Meistbegünstigung.
    4. Beide Eigentumssysteme werden als gleichberechtigt anerkannt.
    5. Rapallo bedeutete nichts weniger als die Schaffung einer Möglichkeit der Zusammenarbeit verfeindeter Systeme, v.a. des deutschen und sowjetischen Systems der Weltwahrnehmung. Das machte Rapallo zu einem "Schreckenswort für westliche Ohren" (Haffner).

    Die unterschiedliche Wahrnehmung Rußlands nach 1990 in Ost- und Westdeutschland hat ihren Grund in der Verarbeitung von Rapallo. Während man im Osten Deutschlands das Werk begrüßte, dachte man in der alten BRD über Rapallo nichts Gutes. Man sah es als Verrat am Westen.
    Wirth am 29. 'Mai 1922 im Reichstag

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