Ein Gedichtband. Selbstgemacht: handgezeichnet, handgedruckt und handgebunden. Ich mag das. Literatur entsteht immer nur von unten, muß dann aber anarchische Muster verlassen und den Weg zur Mitte finden. Ironischerweise geschieht das über die Eliten eines Landes. In der BRD des Jahres 2022 muß ich sagen, es geschah. Die Eliten interessieren sich schon länger nicht mehr für Lyrik; sie hat an Bedeutung verloren, ist weder stilprägend noch bedeutsam für die allgemeine Weltwahrnehmung, bleibt im zerrißnen Ich der Postmoderne ein Artefakt der Nabelschau, bestenfalls wichtig für einen kleinen Kreis Eingeweihter.
Ich freue mich mitteilen zu können, daß mich das kleine Büchlein von Kerstin Bette bei aller folgenden Kritik antraf.
Meine Technik hinsichtlich der Kritikvermutung eines Buches richtet sich nach der Textsorte. Habe ich einen Gedichtband vor mir, so interessiert mich zuerst einmal die Intention des Bandes: Sinn- oder Erlebnisdichtung? Liebeslyrik oder philosophische Sinntextur? Dann erwarte ich in einem Text eine formale und inhaltliche Geschlossenheit oder eben die bewußt gesetzte Öffnung für die Gedanken des Lesers. Ich möchte geführt werden, zugleich aber auch meinen Gedanken und Gefühlen in einem Text Raum verschaffen können. Ein eng gezurrter Text kann gut sein, wenn ich mich darauf einlassen kann. Ich erwarte von einem Dichter, daß er in der Lage ist, Worte zu bilden, die mir unbekannt sind oder die eine eigene Welt erschaffen können, in die ich eingelassen werde, sofern ich mich nur recht mühe. Es darf nicht zu naheliegend sein, was da präludiziert wird.
Das Buch ist zwar in sechs Abschnitte unterteilt, innert eher lose. Daß am Ende des Büchleins ein Testament steht, das die verwirrende Antithese
abschließt, kann stellvertretend für beinahe alle Texte stehen. Sie sind summarisch, zugleich exemplarisch, nicht zugespitzt, sondern innehaltend. Die einzelnen Gedichte sind Augenblicke in einem Fluß, dem ewigen Fluß des Lebens. Das lyrische Ich achtet das Leben, ihr eigenes jederzeit kündigungsbereit, andere aber um so mehr liebend, fürsorglich. Das Buch ist sehr weiblich. Es fehlt ein Bewußtsein für die innere Dreiteilung von Sinngedichten; der beinahe mantrische Charakter einzelner Texte bleibt in sich schön, aber auch unverdichtet. Verdichtung entsteht durch die Verbindung gegensätzlicher Ausgangspunkte. Diese fehlen beinahe völlig. Zwar setzt das lyrische Ich sich selber als ein Ich, zwar wird das Nicht-Ich erkannt, aber es wird dem Ich nur in den Liebesgedichten zugeführt, wobei das (männliche?) Pendant ziemlich blaß bleibt; es ist eher ein Objekt als ein zweites Ich, kein entwicklungsfähiges Ich aus dem Nicht-Ich, das dann eben in der Synthese zusammengeführt werden könnte. Eben deshalb auch sind die Texte postmodern; sie zeigen aber kein wirklich zerrißnes Ich, dafür ist das lyrische Ich jeweils zu selbstsicher und lebensfest.
Die Spannung, die sich aus diesem Gegensatz bildet, fesselt auch den Leser, der (wie ich) Sympathie für diese Selbstgewißheit findet, die sich in einem liebevollen Umgang mit dem Nicht-Ich vielerorts zeigt. Beispiel:
januar
eiskalt
berechnet er alles
holt und duldet
meinen widerspruch
nicht beharrt
schweigend auf das opfer
nackt und erschlagen
der himmel frostig
unter dem federschwert
nimmt er den atem
für die saat die aufgehen könnte
wenn wir den finger bohren
in das vielmals fressende
weiß geblendete
schwarze stück
heimat
In sprachlicher Hinsicht habe ich die Uneinheitlichkeit der Zeichensetzung zu kritisieren, auch das uneinheitliche (modische) Auseinanderreißen zusammengesetzter Verben. Als Lektor hat man die Wahl zwischen dem Verzicht auf Satzzeichen oder eben dem behutsamen Einsatz. Haken- und Zeilenstil gehen mitunter durcheinander, was mit eben dem Fehlen eines dramaturgischen Fadens korreliert. Aber eines halte ich dem Büchlein bei all diesen Fehlern zugute: Es ist Literatur, nicht nur, wie so oft bei handgemachten Büchern, Poesiealbum. Ein wuchtig-trotziges Ich steht da im Leben und liebt, beobachtet, wird Teil und strahlt eine Form des Optimismus aus, die mir sehrlichst behagt. Warme Worte schreibt sie, die Kerstin Bette.
Wer das Buch erwerben möchte, möge beim Graphiker anfragen; vielleicht hat der noch eines von den hundert handgemachten Exemplaren und gibt eins ab.
Ich freue mich mitteilen zu können, daß mich das kleine Büchlein von Kerstin Bette bei aller folgenden Kritik antraf.
Meine Technik hinsichtlich der Kritikvermutung eines Buches richtet sich nach der Textsorte. Habe ich einen Gedichtband vor mir, so interessiert mich zuerst einmal die Intention des Bandes: Sinn- oder Erlebnisdichtung? Liebeslyrik oder philosophische Sinntextur? Dann erwarte ich in einem Text eine formale und inhaltliche Geschlossenheit oder eben die bewußt gesetzte Öffnung für die Gedanken des Lesers. Ich möchte geführt werden, zugleich aber auch meinen Gedanken und Gefühlen in einem Text Raum verschaffen können. Ein eng gezurrter Text kann gut sein, wenn ich mich darauf einlassen kann. Ich erwarte von einem Dichter, daß er in der Lage ist, Worte zu bilden, die mir unbekannt sind oder die eine eigene Welt erschaffen können, in die ich eingelassen werde, sofern ich mich nur recht mühe. Es darf nicht zu naheliegend sein, was da präludiziert wird.
Das Buch ist zwar in sechs Abschnitte unterteilt, innert eher lose. Daß am Ende des Büchleins ein Testament steht, das die verwirrende Antithese
laß mich noch einmal gedeihen
für immer
für immer
abschließt, kann stellvertretend für beinahe alle Texte stehen. Sie sind summarisch, zugleich exemplarisch, nicht zugespitzt, sondern innehaltend. Die einzelnen Gedichte sind Augenblicke in einem Fluß, dem ewigen Fluß des Lebens. Das lyrische Ich achtet das Leben, ihr eigenes jederzeit kündigungsbereit, andere aber um so mehr liebend, fürsorglich. Das Buch ist sehr weiblich. Es fehlt ein Bewußtsein für die innere Dreiteilung von Sinngedichten; der beinahe mantrische Charakter einzelner Texte bleibt in sich schön, aber auch unverdichtet. Verdichtung entsteht durch die Verbindung gegensätzlicher Ausgangspunkte. Diese fehlen beinahe völlig. Zwar setzt das lyrische Ich sich selber als ein Ich, zwar wird das Nicht-Ich erkannt, aber es wird dem Ich nur in den Liebesgedichten zugeführt, wobei das (männliche?) Pendant ziemlich blaß bleibt; es ist eher ein Objekt als ein zweites Ich, kein entwicklungsfähiges Ich aus dem Nicht-Ich, das dann eben in der Synthese zusammengeführt werden könnte. Eben deshalb auch sind die Texte postmodern; sie zeigen aber kein wirklich zerrißnes Ich, dafür ist das lyrische Ich jeweils zu selbstsicher und lebensfest.
Die Spannung, die sich aus diesem Gegensatz bildet, fesselt auch den Leser, der (wie ich) Sympathie für diese Selbstgewißheit findet, die sich in einem liebevollen Umgang mit dem Nicht-Ich vielerorts zeigt. Beispiel:
januar
eiskalt
berechnet er alles
holt und duldet
meinen widerspruch
nicht beharrt
schweigend auf das opfer
nackt und erschlagen
der himmel frostig
unter dem federschwert
nimmt er den atem
für die saat die aufgehen könnte
wenn wir den finger bohren
in das vielmals fressende
weiß geblendete
schwarze stück
heimat
In sprachlicher Hinsicht habe ich die Uneinheitlichkeit der Zeichensetzung zu kritisieren, auch das uneinheitliche (modische) Auseinanderreißen zusammengesetzter Verben. Als Lektor hat man die Wahl zwischen dem Verzicht auf Satzzeichen oder eben dem behutsamen Einsatz. Haken- und Zeilenstil gehen mitunter durcheinander, was mit eben dem Fehlen eines dramaturgischen Fadens korreliert. Aber eines halte ich dem Büchlein bei all diesen Fehlern zugute: Es ist Literatur, nicht nur, wie so oft bei handgemachten Büchern, Poesiealbum. Ein wuchtig-trotziges Ich steht da im Leben und liebt, beobachtet, wird Teil und strahlt eine Form des Optimismus aus, die mir sehrlichst behagt. Warme Worte schreibt sie, die Kerstin Bette.
Wer das Buch erwerben möchte, möge beim Graphiker anfragen; vielleicht hat der noch eines von den hundert handgemachten Exemplaren und gibt eins ab.