Die Kraft der Toten II

[aerolith]

Fortsetzung des gleichnamigen Ordners aus dem alten Forum

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Neulich sagte eine Freundin zu mir, ich solle loslassen, weitermachen und mir neue Freunde suchen, wenigstens einen neuen. Man müsse abschließen, das Leben ginge weiter, über alles weht der Wind, wächst Gras, kreisen die Geier...

Ja, ne, is klar.

Ich glaube an den Kreislauf des Lebens. Das bedeutet keine Gleichgültigkeit gegenüber den Toten, sondern eben gerade ihre Achtung und ein Bewußtsetzen ihrer Einmaligkeit. ich suche mir nicht einfach Ersatz. Ist ein Freund gestorben, suche ich mir nicht jemanden, der seine Eigenschaften, Laster und Vorlieben besitzt. Verläßt mich eine Frau, suche ich mir nicht ihr Abbild. Verlasse ich einen Menschen, suche ich nicht nach Ersatz für das, was mich einst an ihn band.

[aerolith]

Der unverhoffte Besuch eines mir einst wichtigen Menschen zeigte mir schmerzhaft, daß manche Lebensabschnitte unwiederbringlich verloren sind. Es war wie ein Stochern im Ichts, allerdings ohne die Freude, die ich hätte empfinden müssen, die Chance zum Aufstoßen eines verschlossen geglaubten Tores nutzen zu dürfen.
Gestern schlug ich ein altes Sinn und Form-Heft auf, jenes mit der berühmten Rede Franz Fühmanns über ETA. Er hatte sie 1976 gehalten und damit eine neue Romantik in der DDR aufstoßen wollen, eine Neubewertung der als spinnerten Nicht-Realismus verschrienen Zeit. Beim Lesen seines Redetextes wurde mir wieder mal der Unterschied zwischen Literatur und Leben bewußt. Die Literatur kann offenbar sehr viel mehr leisten; sie kann Freunde bewahren, zugleich durch Neuinterpretation verlebendigen und aus einer (scheinbar) vergangenen Zeit ins Jetzt holen. Mit noch lebenden alten Freunden scheint mir dies nicht möglich zu sein.
Ich bin mit dem Lesen der Rede noch nicht fertig, konnte mir ein notiertes "sehr gut" an den Rand des Heftchens allerdings nicht verkneifen. Ich scanne die Seite mal:

[aerolith]

In mythischen Zeiten, also prähistorischen, glaubten die Menschen an die Kraft der Toten. Erschienen diese im Traume, also die Toten, so war ihnen das ein Beweis fürs Mana, letztlich für die Wirksamkeit der toten Seele. Pharaonen wurden auch deshalb so tief in ihren Steinbergen verbiorgen, weil diese zwar den Seelenteil verloren hatten, den alle Lebenden besitzen (übrigens auch Pflanzen), aber noch über den Seelenteil verfügen, den die Toten eben besitzen (sollen), ganz besonders die Gott so nahestehenden Pharaonen. Jeder Tote kann uns in der Erinnerung begegnen. In der mythischen Zeit war auch die Erinnerung Teil der Seele. Noch Aristoteles begriff Erinnerung als Teil des Seelenlebens. Anamnesis,. ein urdemokratsiches Konzept, weil es jedem Menschen zukömmt, auch den Sklaven. Möglicherweise auch Frauen, möchte ich hinzufügen. ?

[aerolith]

Dieser Gebser ist eine Entdeckung. Da wird man 60 Jahre alt und kennt doch nur einen Bruchteil derer, die man als Philosophen bezeichnen kann - und die Bedeutung besitzen.

Seine Erweiterung der Begrifflichkeit in bezug auf Geister, Mana, das Numinose oder auch die Perspektivität, mit der wir Menschen die Welt sehen (wollen) ist erhellend und unterhaltsam. Ein bißchen wirr, was aber angesichts der Thematik durchaus abgemessen ist. Wer da klare Begriffe besitzt, der kann nur Teil dieser Welt sein.
Er beschrieb Geister als negatives Mana. Logisch, aber darauf muß man erst mal kommen. Anders gesagt, Geister ziehen ihre Kraft aus dem, was sie mal waren - und wieder sein werden: Menschen.