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Sheldon S. Wolin: Umgekehrter Totalitarismus (2008)

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  • Sheldon S. Wolin: Umgekehrter Totalitarismus (2008)

    Das Buch erschien im Original 2008 in Amerika, 2022 in Frankfurt/Main deutsch. Ich habe es mir nach der Lektüre einer Rezension gekauft und werde in diesem Ordner die in diesem 460 Seiten starken Spätwerk (Lebenszeit Wolins 1922-2015) genannten Thesen vorstellen. Ich setze mit der Eröffnung dieses Ordners die Diskussion aus dem Demokratie-Ordner des alten Wolkenstein-Forums fort.

    Kurz etwas zu Wolin: Der Mann lehrte über Jahrzehnte an amerikanischen Elite-Unis Politik und Philosophie. Er war bereits in den 1970ern Jahren als Koryphäe anerkannt, die sich insbesondere auf die Entwicklung des Denkens konzentriert hatte, also problemorientiert dachte.

    1. These: Jede einzelne der wichtigsten Institutionen im Lande ist antiodemokratisch in Geist, Design und Funktion. Jede ist hierarchisch strukturiert, autoritätsorientiert, prinzipiell gegen gleichberechtigte Teilhabe, der Bürgerschaft gegenüber nicht rechenschaftspflichtig, elitär udn führungsorientiert und darauf ausgerichtet, immer mehr Macht in den Händen weniger zu konzentrieren und das politische Leben auf Verwaltung zu reduzieren. (1981)

  • #2
    Ist bis jetzt ein sehr schönes Buch. Bin allerdings immer noch beim guten Vorwort von Rainer Maußfeld, doch da der viel zitiert, zeichnet sich schon ab, worum es gehen wird. Ich werde im Unterschied zum Fischer-Buch hier nicht These für These abarbeiten, was sujetbedingt ist: Soziologen arbeiten eher an einer grundlegenden These, die sie dann adaptieren. Sie denken problemorientiert und progressiv. Historiker haben durch die Chronologie ein ganz anderes Arbeitsfeld. Zwar könnten sie philosophiegeschichtlich historische Tatbestände prüfen und bewerten, aber gerade das tut Fischer ja nicht, es ist vielmehr umgekehrt, daß er nämlich historische Eriegnisse unter einem ideologischen Paradigma (ereignisgeschichtlich) betrachtet, also eine Eingangsthese besitzt, die er anhand historischer Tatsachen verifizieren möchte. Deshalb muß jeder Behauptung einzeln geprüft werden. Die Verifikation einer einzelnen Behauptung bedeutet nicht, daß die Grundannahme falsch sei - und umgekehrt.
    Bei Wolin gibt es relativ viele Denkansätze, aber es gibt nur ein Thema, das zwar auch historisch betrachtet werden kann, aber hier nicht historisch, sondern eher hinsichtlich eines Programmablaufplanes betrachtet werden muß, also ganzheitlich. Ich kann hier methodisch also mehrere Thesen notieren, die ich dann evolutiv und auch deduktiv/induktiv betrachten und bewerten könnte. Ich neige bislang zu einem induktiven Befasse, weil Wolin mir deduktiv vorgegangen zu sein scheint, was im Umkehrschluß bedeutet, daß Analyse den umgekehrten Weg gehen muß.

    2. These: Die zivilisatorische Leitidee von Demokratie beruht auf einer egalitären Prämisse und zielt auf eine radikale Einhegung von Macht durch ihre Vergesellschaftung.
    3. These: Demokratie besteht darin, daß man gemeinsam jene Kräfte kontrolliert, die das Leben und die Lebensbedingungen anderer und der eigenen Person unmittelbar udn maßgeblich beeinflussen.
    4. These: Demokratie ist nur in flüchtigen Räumen realisierbar, also in eng begrenzten (lokalen) Räumen. Dennoch kann die flüchtige Demokratie eine stabile politische Wirkung in größeren komplexen Gesellschaften entfalten, da sie von der Kraft der Idee der Gleichheit angetrieben wird. Demokratie regiert durch Durchdringung (permeation).
    5. These: Der Kern der Demokratie ist NICHt der Dissenz (also die gespaltene Gesellschaft und deren Zusammenhalt), sondern der Status der Demokratie als Opposition in Permanenz und die Bedeutung, die eine ständige Erneuerung der politischen Erfahrung für sie hat.
    6. These: Eine wirkliche, aktiv-apartizipatorische Demokratie ist unvereinbar mit der modernen Wahl des Staates als festem Zentrum des politischen Lebens. (Anders gesagt: Eine Demokratie ist keine Staatsform, sondern ein Zustand permanenter Revolution.) Ein demokratischer Staat ist eine contradictio in adiecto. Demokratie macht die von Konzernen entwickelten Formen der Macht unbrauchbar, sie muß kooptiv sein. Daher ist die Idee eines demokratsichen Staates ein Widerspruch in sich.
    7. These: Dort, wo Repräsentation vorliegt, gibt es keine echte Demokratie. Demokratie erfordert, daß die Bürger als Kollektiv handeln können, indem sie vor jeder wichtigen Entscheidung darüber diskutieren.

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    • #3
      Besonders interessant (für mich) ist die Diametralität im Demokratie-Begriff, wie sie sich bei Wolin im Vergleich zu Thomas Mann zeigt (ich schrieb meine Magister-Arbeit über ein Mann-Buch und befaßte mich seinerzeit auch mit seinen "Betrachtungen eines Unpolitischen"). Thomas Mann hatte eine synergetische Verbindung zwischen Demokratie und Kapitalismus angenommen. Wolin behauptet das Gegenteil: Wolin nimmt an, daß Demokratie und Kapitalismus als Gesellschaftsformen (wir wissen, daß Demokratie keine Gesellschaftsform, sondern eine Herrschaftsform ist, aber über diesen fauxpas in der Einleitung sehe ich itzt mal hinweg) miteinander UNVERTRÄGLICH seien, weil sie auf geradezu entgegengesetzten Funktionsprinzipien beruhten. (These 8)
      9. These: Die Unverträglichkeit von Demokratie und Kapitalismus besitzt Auswirkungen auf die Sphäre des Politischen. --> Das ist das Thema Wolins, womit er sich als Nicht-Marxist erweist; für einen Marxisten sind die Produktionsverhältnisse entscheidend; ökonomische Fragen spielen für Wolin aber nur eine untergeordnete Rolle, wichtiger sind begriffs- und ideengeschichtliche Fragestellungen
      10. These: Totalitarismus bedarf einer ideologischen Homogenisierung der Bevölkerung, was einhergeht mit der Verschwinden des Politischen.

      Wir sehen hier, wie wichtig es ist, klare Begriffe zu haben. In der DDR sprach man immer von sozialistischer Demokratie und grenzte diese von der kapitalistischen ab. (dazu später)

      11. These: Es besteht eine Diskrepanz zwischen demokratizider Rhetorik und demokratischer Realität in kapitalistischen Demokratien1. Die demokratizide Rhetorik ist ein Herrschaftsinstrument.

      1 Kapitalistische Demokratien stehen in schroffem Gegensatz zu zentralen emanzipatorischen Einsichten und Errungenschaften und sind eine Herrschaftsform, die gravierend menschliche Grundbedürfnisse nach individueller Selbstentfaltung verletzt.

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      • #4
        12. These: Die feinde der Demokratie entspringen in kapitalistischen Gesellschaften aus der ideologischen Mitte der Gesellschaft, aus dem Liberalismus und dem von ihm erzeugten politischen Vakuum. In dem aus der Verbindung von Liberalismus udn Kapitalismus gespeisten umgekehrten Totalitarismus sind die unerbittlichsten und wirkmächtigsten Feinde der Demokratie nicht mehr Faschisten oder Kommunisten, sondern die exekutiven Apparate selbst in ihren Verflechtungen mit Konzernen, Kapitalgesellschaften und Massenmedien.

        Wahrscheinlich ist diese These die bedeutsamste für unsere Zeit, schließlich wird den politischen Rändern immer vorgeworfen, daß sie eine Spaltung der Gesellschyaft betrieben. Wolins zwölfte These wird zu untersuchen sein.

        13. These: Auch linke Parteien haben sich weitgehend mit dem kapitalistischen System akkomodiert. Fundamentaler Dissens wird deshalb zunehmend undenkbarer.
        14. These: Eine aktiv-partizipatorische Demokratie ist nur in kleinen Räumen möglich, aber sie ist auch in Zeiten globaler Warenströme möglich.
        15. These: Das Fundament der Demokratie ist eine auf egalitärer politischer Partizipation beruhende Haltung zur politischen Organisation der Macht.

        Damit ist die Arbeit an der über 50seitigen Einleitung abgeschlossen.

        P.S. Ich mache in diesem Kontext auf mein sicherlich in manchen Teilen zu überarbeitendes Manifest aufmerksam.

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        • #5
          Meine Begeisterung für Wolin nimmt ab. Für mich klingt das alles mehr und mehr nach Utilitassoziologie, stramm im Dienste eines Meinungskorridors, der genau durch zwei Seiten begrenzt wird:
          a) an der wirtschaftlichen Ausrichtung (Marktwirtschaft mit entsprechender subjektiver Aneignung des weitgehend objektiv Erwirtschafteten) wird nicht gerüttelt und
          b) eine Widersprüche verwischende, nivellistische (transformative) Geschichtsauffassung betrachtet die USA als ein stets Werdendes und nicht als ein Überstülpendes.

          Ich bin bis Seite 178 gekommen - "Die Dynamik der Transformation" -, lese nun noch ein oder zwei Kapitel. Vielleicht tut sich ja noch was.

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